Ingrid Stapf schreibt aktuell an ihrer Habilitation, in der es um Grundlagen einer "Kinder-Medien-Ethik" in digitalen Zeiten geht. Die Medienethikerin forscht an der Universität Tübingen und lehrt an mehreren Hochschulen. Zurzeit leitet sie ein Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Sicherheit von Kindern in digitalen Welten (SIKID). Seit langem arbeitet sie ehrenamtlich unter anderem als Prüferin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Von daher kennt sie sich aus mit vielen Chancen und Risiken, die das Digitale für Kinder und Jugendliche bereithält. Wie stellen wir uns eine gute Kindheit mitsamt den digitalen Medien vor? Und welche Rolle spielen dabei die Kinderrechte? Über diese Fragen spricht sie im Podcast "Ethik Digital" mit Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich.
Frau Stapf, Sie habilitieren sich zum Thema einer Kinder-Medien-Ethik. Was ist das Kindlichste oder Kindischste, was sie selbst mit digitalen Medien machen?
Ingrid Stapf: Ich schaue keine Katzenvideos oder spiele übermäßig Spiele. Was ich an der Frage spannend finde: Was heißt es, kindlich mit etwas umzugehen? Für mich heißt es, in der Forschung einen Anfängergeist zu haben, mit Offenheit an etwas ranzugehen, ohne schon irgendwelche Folien darüberzulegen. Und kindlich ist auch, dass ich manchmal verwundert bin, welchen Stellenwert mein Smartphone in meinem Leben hat – es weiß mehr über mein Leben als ich. Es bezeugt alles, was ich mache.
Ihr wichtigstes Thema ist das Aufwachsen mit digitalen Medien. Wie sind Sie dazu gekommen – über Ihre eigenen Kinder?
Stapf: Ich habe Philosophie, Psychologie und Medienwissenschaften studiert und in verschiedenen Medien gearbeitet, bei Fernsehen, Print, Dokumentarfilm. Ich habe dann promoviert zur Medienregulierung im deutsch-amerikanischen Vergleich. Als ich aus den USA zurückkam, habe ich – bevor ich in Erlangen in der Christlichen Publizistik den Schwerpunkt Medienethik/Religion mitbetreut habe – für den "Erfurter Netcode" gearbeitet. Das ist eine Qualitätsinitiative für Kinderseiten, die gute Angebote für Kinder schafft, so dass die Kinder gerne da sind, weil ihre Interessen im Vordergrund stehen. Dort habe ich gelernt zu begründen, inwiefern Qualität für Kinder anders aussieht als für Erwachsene. Dabei fiel mir auf, dass es in der Ethik kaum Auseinandersetzung damit gibt. Von wem reden wir, wenn wir von Kindern sprechen? Was unterscheidet sie von Erwachsenen? Wie begründen wir es, wenn wir sie besonders schützen wollen, und wie können wir sie fördern? Welche normativen Annahmen haben wir im Kopf? Außerdem habe ich in meiner Prüfpraxis bei der FSK und der FSF für den Kinder- und Jugendmedienschutz festgestellt, dass wir Entscheidungen treffen müssen: Was ist angemessen für Zwölfjährige, was ist überfordernd für 16-Jährige? Wir müssen im Diskurs klären: Was sind Gefährdungen? Wen wollen wir schützen? In Tübingen leite ich ein Forschungsprojekt zur Sicherheit von Kindern in Onlinewelten, wo wir versuchen, eine kinderrechtliche Perspektive einzunehmen: Inwiefern ist Sicherheit bei Kindern anders relevant als bei Erwachsenen? Wie müssen wir sie besonders schützen? Wo müssen wir darauf setzen, dass sie resilienter werden? Solche ethischen Fragen gehen wir meist interdisziplinär an.
Ingrid Stapf über Kinderrechte und Medien
Was unterscheidet Kinder von Erwachsenen?
Stapf: Kindheit ist eine sehr dynamische Entwicklungsphase und zeichnet sich durch besondere Verletzlichkeiten aus. Kinder machen bestimmte Erfahrungen erst, auf die wir Erwachsene schon zurückgreifen können, wenn wir gut Entscheidungen treffen wollen. Zugleich entwickeln sich Kinder noch kognitiv, emotional, sozio-moralisch. All das entsteht erst – was aber nicht heißt, dass sie weniger wert sind: Die ethische Idee der Gleichheit meint, dass Kinder und Erwachsene normativ gleichwertig sind, aber faktisch eben unterschiedlich. Und diese Unterschiede sind moralisch relevant. Das hat damit zu tun, dass Störungen in der Kindheit auch nachhaltige Auswirkungen auf das Erwachsenenleben oder eine offene Zukunft haben können, und das kann moralische Verpflichtungen oder auch besondere Schutzansprüche begründen.
Kinderrechtlich gesehen heißt Schutz aber nicht einfach, paternalistisch zu sagen: Das darfst du, das nicht. Es heißt auch, mit dem Kind zusammen zu lernen, selbstbestimmter zu werden. In einem Projekt beschäftigen wir uns mit Straftaten wie Cybergrooming (Ansprechen von Jugendlichen im Internet mit dem Ziel sexueller Übergriffe) oder extremer Hatespeech – bei solchen Dingen ist klar, dass man Kinder davor besonders schützen muss. Aber gleichzeitig braucht es Möglichkeiten zur Befähigung, so dass sie sich durch Erfahrungen gut entwickeln können und Entscheidungen im eigenen Interesse treffen lernen. Und man muss sie beteiligen und fragen: Warum ist diese App ein Problem? Wie finden wir eine bessere Alternative? Das sind die drei kinderrechtlichen Bezugspunkte: Beteiligung, Befähigung und Schutz.
Das klingt einfach, ist es in der Praxis aber nicht ...
Stapf: Nein, einfach ist es nicht, wenn es konkret darum geht zu entscheiden: Ab wann darf das Kind Ballerspiele spielen? Wie lange hängt es am Smartphone? Ist es bei WhatsApp, obwohl es das erst mit 16 selbst entscheiden kann? Und das Thema Klassenchat ... All da kommen die für die Ethik typischen Spannungsfelder ins Spiel. Wir suchen gerne einfache Antworten, müssen aber immer auch schauen: Was ist los mit dem individuellen Kind? Wo sind besondere Verletzlichkeiten? Kinder reagieren auch im gleichen Alter oft sehr unterschiedlich auf die gleichen Phänomene. Durch diese Spannungsfelder können wir auch alle etwas lernen und kommen letztendlich zu begründeten Entscheidungen, und die Kinder einzubeziehen, ist dabei wesentlich.
Die Debatte in Deutschland ist oft angstgetrieben: zu viel Spielen, zu viele Gefahren, zu viel soziale Medien – das Digitale mache Kinder dumm, dick und einsam. Kürzlich hielt der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer einen Vortrag in München zum Thema "Depressionen, Lernstörungen, Kurzsichtigkeit – wie die Digitalisierung die Kinder krank macht". Was halten sie davon?
Stapf: Ich denke, dass darin immer auch eine gewisse Wahrheit steckt. Für bestimmte Kinder und bei bestimmten Medien und in bestimmten Kontexten können digitale Medien durchaus solche Phänomene mitverursachen oder verstärken. Man muss aber bedenken, dass viele von den Problemen wie Essstörungen oder Sucht oft sozial reale Probleme sind, die sich über das Digitale verstärken. Außerdem muss man unterscheiden, was in den jeweiligen Medien schon angelegt ist. Es gibt soziale Medien, die Anreize schaffen, dass ich sie ständig benutze, dass ich gar nicht rauskomme.
In der KIM-Studie, die Neun- bis 13-Jährige befragt, sagen Kinder, dass ihnen Freundschaften am wichtigsten sind. Gleichzeitig haben sie eine hohe Mediennutzung – und das heißt, dass sie auch über digitale Medien ihre Freundschaften ausgestalten und sie im Zuge ihrer Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung nutzen. Dass sie viel Medien nutzen, sagt uns noch nicht, was sie genau machen und was das mit ihnen macht. Deswegen bin ich immer skeptisch bei sehr allgemeinen Aussagen von Ursache und Wirkung und möchte eher überlegen: Bei welchen Kindern, Inhalten und Kontexten sprechen wir von welchen Wirkungen – und was kann man tun, um die Kinder dabei zu stärken?
Wo sagen Sie trotzdem: Da ist eine Grenze erreicht?
Stapf: In jedem Fall gibt es Grenzen, und die werden auch schon artikuliert über den Kinder- und Jugendmedienschutz und die Medienregulierung. Deutschland hat mit den ausdifferenziertesten Jugendmedienschutz im europäischen Raum. Das ist ein hohes Gut. Es hat Verfassungsrang, dass Kinder und Jugendliche geschützt werden. Dadurch werden auch die Medienfreiheiten eingeschränkt. Zudem haben wir das Strafrecht, um gegen bestimmte Tatbestände einschreiten zu können, die nicht in unserem persönlichen Entscheidungsraum – ob wir etwas gut finden oder nicht – liegen. Daneben gibt es aber einen ganz großen Graubereich, wo es auch um kulturelle oder subkulturelle Normen und Familienkulturen geht.
Was passiert in der Familie, wenn alle die ganze Zeit an digitalen Geräten sind, ohne dies bewusst zu tun? Da kann man schwer eingreifen. Daneben regelt der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) und das Jugendschutz-Gesetz (JuschG) auch den Umgang mit entwicklungsbeeinträchtigenden Angebote: Wozu sollten Kinder in bestimmten Altersphasen keinen Zugang haben, aber Erwachsene schon? Zu klären ist dabei: Ab wann haben wir den Verdacht, dass Angebote vom Inhalt oder von den Interaktionsrisiken her Kinder in ihrer Entwicklung zu freien und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten hindern? Welche Angebote sind womöglich demokratiegefährdend? Das ist auch ein großes Thema, gerade im Hinblick auf Desinformation, wo die Teilhabe mancher Menschen reduziert wird, weil sie sich nicht mehr trauen, Aussagen im digitalen öffentlichen Raum zu machen.
Wie können wir sicherstellen, dass Kinder eigenverantwortlich werden? Das sind die Maßgaben auch im Kinder- und Jugendmedienschutz. Wir wollen, dass Kinder die Demokratie ernstnehmen, und alles, was in diesem Rahmen steht, wird bereits reguliert. Die Herausforderung ist, das bei Plattformen im globalen Kontext zu machen – es ist schwierig, die traditionellen Regulierungsmodelle dorthin zu übertragen. Viele hoffen etwa auf den Digital Service Act der EU, da tut sich viel. Auf einer Konferenz wurde gefragt: Macht es Sinn, mit der Schrotflinte immer alles über Altersfreigaben zu regulieren – oder müssen wir nicht stärker nachdenken, wie wir auch den Ansatz "Rights by Design" oder "Support by Design" einführen?
Dabei geht es etwa darum: Wie können Kinder technische Einstellungen so verändern, dass sie bestimmte Inhalte nicht sehen? Wo bekommen sie Hilfsangebote, wenn sie verstört sind und nicht zu den Eltern gehen wollen? Hier müssen wir vernetzter denken. Die Kinder sitzen nicht mehr im Wohnzimmer vor dem Fernseher, und die Eltern sagen: So, Schluss jetzt. Sie sind auf dem Schulhof, in der S-Bahn, und die Eltern kriegen es oft nicht mit. Der Jugendmedienschutz ist nur ein Baustein etwa neben der Medienerziehung durch die Eltern und der Medienbildung, die stärker in den Schulen verankert werden muss, bis hin dazu, dass wir auch die Anbieter stärker verpflichten zu sagen: Euer Angebot wird vorrangig von jungen Menschen genutzt, also solltet ihr in der Verantwortung stehen und deren Verletzlichkeiten mitdenken.
Bei welchen Anbietern sehen Sie Regulierungsbedarf – TikTok?
Stapf: TikTok ist ein Beispiel. Mit Blick auf den Ukrainekrieg bekommen dort Kinder über Vorschlagssysteme Videos vorgeschlagen, die teilweise gewalthaltig sind, aus dem Schützengraben gesendet werden, über Loops und mit Musik funktionieren. Statt sich Nachrichten über Krieg anzusehen, wird man dort fast in Unterhaltung reingezogen, oft noch gemischt mit Desinformation.
Da steht viel auf dem Spiel, und die Kinder wissen oft nicht, wie sie das stoppen können oder was es mit ihnen macht. Anbieter wie TikTok tun einiges, indem sie Voreinstellungen oder Guidelines anbieten – sie nennen das "digital wellbeing". Aber damit wollen sie natürlich härtere Regulierung verhindern. Und in einigen Fällen ist schon die Frage, wie man so regulieren kann, dass nicht zugleich die Rechte Erwachsener beschnitten werden. Das ist das Dilemma: dass Erwachsene besser abschätzen können, was ihnen guttut und was sie wollen – aber wie machen wir das, wenn sie mit Kindern im gleichen Raum unterwegs sind?
Wo sind die Grenzen beim Gaming?
Stapf: Ein Thema ist, dass über Chats bei Online-Games pädophile Menschen niederschwellig Kontakt mit Kindern aufnehmen können, um sich dann analog zu treffen. Hier muss präventiv schon viel im Vorfeld geschehen – regulatorisch, aber auch von der Stärkung der Resilienz und des Wissens von Kindern, so dass es gar nicht dazu kommt. Da stehen wir noch relativ am Anfang, auch weil der Markt so dynamisch ist, dass wir in der Regulierung immer hinterherhinken. Deswegen denke ich, dass die Kombination von Regulierung sowie Stärkung und Befähigung von Kindern und Eltern, gerade auch über die Schnittstelle Schule, immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Wie bestimmt unser Bild von Kindheit unsere Vorstellung davon, was Kinder brauchen? Und geben die Kinderrechte den Kindern nicht so viele Freiheiten, dass sie selbst entscheiden können, wie viel sie zocken oder chatten wollen?
Stapf: Das Entscheidende, wenn man einen kinderrechtlichen oder kinderethischen Ansatz nimmt, ist es zu sagen: Ich sehe Kinder nicht als Objekte, bei denen irgendwas geschützt werden muss. Sondern als Subjekte, die in einem konkreten lebensweltlichen Kontext stehen und bestimmte Entwicklungsthemen haben, die sie dazu motivieren, dass sie bestimmte Angebote suchen.
Dabei stoßen sie oft zufällig auf Angebote, die verstörend sein können. Das ist grundlegend: Ich nehme Kinder ernst – aber ich schaue auch darauf, wo sie in ihrer Entwicklung stehen. Ein zentraler Aspekt von Kinderrechten sind die Entwicklungsfähigkeiten. Wenn ich überlege, was ich das Kind selbst entscheiden lassen will, muss ich schauen, wo es individuell gerade steht.
Lernt ein Kind, sich im Digitalen zu bewegen wie im Straßenverkehr?
Stapf: Ein bisschen greift die Analogie: Letztendlich möchte ich, dass mein Kind sich selbstständig in der Stadt oder im Dorf bewegen kann und dass es lernt, die Regeln zu kennen und sich zu schützen. Aber wenn das Kind erst drei ist und noch nicht weiß, wie Unfälle passieren und wie man die Straße überquert, würde ich sagen: Du bleibst an meiner Hand, wir schauen zusammen nach links und rechts und gehen sicher rüber. Aber wenn es sieben ist oder ich durch sein allgemeines Verhalten sehen kann: Ah, das wird schon mitgedacht – dann können wir ohne Handnehmen zusammen rüberlaufen. Und irgendwann darf es auf dem Gehweg oder dem Fahrradweg radeln. Aber bis dahin ist auf dem Weg schon viel passiert.
Es fährt nicht mit 18 einfach auf der Autobahn – sondern da sind viele kleine Schritte passiert, wo ich das Kind ständig befähige, und zwar in einer Beziehung zu den Eltern, die schauen können: Das traue ich dir schon zu, das nicht. Und wenn das Kind ein bestimmtes Spiel spielen möchte, kann ich sagen: Zeig es mir und sag mal, was du daran spannend findest! Ich kann mich auch informieren und sagen, weißt du, warum ich Zweifel habe? Ich sehe Gefahren bei dem Spiel, ich sehe deine Privatheit oder deine Sicherheit gefährdet. Dein Wohl liegt mir am Herzen, und deswegen möchte ich mal mit dir zusammen spielen oder zugucken. Oder: Es gibt aber ein sichereres Spiel, das dir auch das bietet, was du suchst, sollen wir das probieren? Das heißt nicht zu sagen, mach was du willst – das wäre Laissez-faire, dann lasse ich das Kind einfach im Dunkeln auf der Straße herumfahren. Als Eltern hat man nicht nur ein Erziehungsrecht, sondern auch eine Sorgepflicht. Die Elternpflichten kommen in den Kinderrechten auch vor.
Wie funktioniert Beteiligung in verschiedenen Altersphasen?
Stapf: Nach Artikel zwölf der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder das Recht, in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, gehört zu werden und auch sich zu beteiligen – was nicht heißt, dass sie selbst entscheiden. Das kann ein Kind dann, wenn es reifer ist, so wie Kinder mit 14 Jahren religionsmündig sind. Wir gehen also gesellschaftlich trotz der individuellen Variation davon aus, dass Kinder in bestimmten Altersphasen mehr selbst entscheiden können. Das ist mit digitalen Medien auch der Fall.
Davon abgesehen: Wenn Kinder in der Pubertät sind, kann ich nicht mehr so leicht sagen, ich möchte das nicht. Dann muss ich stärker begründen können, warum ich diese Sorge habe und dass diese nicht einfach mein Machtanspruch ist, sondern mein Interesse an seinem Wohlbefinden. Das ist der kinderrechtliche Ansatz: das Kindeswohl an vorderste Stelle zu stellen, das Kind anzuhören und entwicklungsangemessen zu beteiligen, es aber auch mal negative Erfahrungen machen zu lassen, damit es daran lernt.
Thema Medienkompetenz: Was könnte zu einem Curriculum gehören?
Stapf: Das gibt es schon in einzelnen Bundesländern. In die Schule meiner Kinder kommt regelmäßig die Polizei, und sie reden auch über Sicherheit im Digitalen. Die Beamten zeigen den Kindern auf, dass bestimmte Dinge Straftaten sind und sie sich das nicht gefallen lassen müssen. Wir sehen über die Statistiken, dass die Täter:innenschaft unter Kindern und Jugendlichen steigt, etwa weil sie Material herumsenden, von dem sie nicht wissen, dass es verboten ist – etwa kinderpornografisches Material. Wenn das einer im Klassenchat hat, haben sich alle strafbar gemacht. So kann die Schule, auch über Netzwerkstellen zur Polizei, Aufklärungsarbeit machen und die Kinder sensibilisieren.
Und man kann in verschiedenen Fächern Themen aufbauen, um Befähigung zu schaffen. Zum Beispiel kann man im Matheunterricht über Coding sprechen: Coding ist eine Sprache, die ich lernen kann, um teilhaben zu können. Im Deutschunterricht kann man über Hatespeech reden: Was ist eigentlich Sprache? Was mache ich, wenn ich jemanden verletzt habe? Das sind grundlegende Sozialkompetenzen – und dabei kann man die Erfahrungen aufgreifen, die Kinder im Digitalen machen. Was viel an Schulen thematisiert wird, sind Cybermobbing und Bullying (Schikane), also zu fragen: Was ist ein Bystander? Was passiert, wenn du zuschaust und nicht für andere einstehst? Das sind moralische Werte. Es gibt viele Anschlusspunkte.
Es kommt auf die Qualität der Beziehung an
Das klingt gestaltungsfreudig! Trotzdem bleibt bei Lehrer:innen und Eltern oft das Gefühl: Digitalerziehung kommt noch on top, es muss noch zusätzlich geleistet werden. Wie geht man damit um?
Stapf: Ich empfinde das auch persönlich als große Herausforderung. Bei vielen Tagungen heißt es, die Lehrkräfte oder die Eltern sollen es richten, und die sagen: Was, das auch noch? Das ist eine Überforderung. Und Studien zeigen, dass ab einem gewissen Alter die Kinder oft kompetenter sind als die Eltern und sich nicht mehr einfach etwas sagen lassen wollen. Das Wichtigste ist, sich zu interessieren, im Gespräch zu bleiben. Wenn das Kind spielt, kann ich fragen: Darf ich mal schauen, was du machst? Zeig mir, wie hast du die Figur gewählt? Es gilt, Interesse zu zeigen – damit das Kind, wenn Probleme auftauchen, sich auch öffnet.
Einen Regelkatalog zusammenzuschreiben oder ein "Handyführerschein" sind auch wichtige Maßnahmen. Aber es kommt oft auf die Qualität der Beziehung an. Wenn die funktioniert, wenn da Offenheit, Wertschätzung und Fehlertoleranz sind, kann ich auch sagen: Du hast was gemacht, das ich nicht gut finde – erklär mir mal, wie es dazu kam, und lass uns überlegen, wie du sowas in Zukunft anders machen würdest. Ich begründe, warum ich etwas nicht gut finde, und gemeinsam können wir nach Optionen schauen. Wir müssen in diesen anstrengenden Zeiten schauen, dass wir genug wissen, um mitreden zu können, informiert und gelassen bleiben, auch auf das Kind vertrauen – dass wir aber auch, wenn wir merken, es ändert sich was beim Kind, es wird zurückgezogener, dass wir dann aufmerksam sind, ob etwas schiefläuft. Es gibt viele, auch digitale Beratungsstellen für Eltern, teilweise kostenfrei, die tolle Angebote machen. Man sollte sich nicht scheuen, sich Hilfe zu holen, weil es normal ist, dass man sich überfordert fühlt.
Welche medienethische Fragestellung ist für Sie derzeit die größte Herausforderung?
Stapf: Letztendlich geht es um Freiheiten – im Mediensystem, aber auch um die Freiheit der einzelnen, und da bin ich sehr besorgt. Ich habe eine Weile in der Privatheitsforschung gearbeitet mit Blick auf Kinder, was Überwachungstechnologien oder die Verwendung von Daten angeht. Da sehe ich große Probleme im Hinblick auf ihr Recht auf eine offene Zukunft. Außerdem geht es auch um Glück und gelingendes Leben – wir müssen uns als einzelne und als Gesellschaft fragen: Wie wollen wir leben? Was ist für uns eine gute Kindheit?
Eine besonders geschützte Kindheit oder eine, wo Kinder unbeschwert an verschiedenen Räumen teilhaben können? Ich nehme wahr, dass Kinder heute gestresst sind, auch durch gesellschaftliche Sorgen. Wir müssen überlegen, wie wir gemeinsam Räume schaffen, wo wir auch Unbeschwertheit erfahren. Zugleich sollte man überlegen: Was wollen wir mal ohne Medien machen, wann gehen wir mal in den Wald? Das klingt fast naiv, aber ich finde das auch einen wichtigen Lösungsansatz: Was halten wir dagegen? Was heißt es, Aufmerksamkeit zu halten, wenn wir so überströmt sind mit Informationen? Was heißt es für mich, eine gute Wahl zu treffen oder ein gutes Gespräch zu führen und mich nicht nur auf Instagram darzustellen? Das sind klassische ethische Fragen: Wer bin ich eigentlich? Regulierung ist wichtig – aber was soll sie ermöglichen? Dass Kinder Freiräume haben, sich selbst auszudrücken, Informationen zu finden, kulturell teilzuhaben, politisch aktiv zu sein, die Demokratie mitzugestalten und auch Spaß zu haben.
Viele Kinder auf der Welt haben gar keinen Zugang zu Medien.
Stapf: Das Thema soziale und digitale Ungleichheit beim Medienzugang ist ein großes Problem. Das hat man allein während der Pandemie gesehen: Die einen waren im Ferienhaus in Brandenburg, und die anderen haben zu fünft im Zimmer gesessen und das Kind auf dem Bügelbrett mit einem alten Laptop Schulunterricht mitgemacht. Wenn wir als Gesellschaft Gleichheit fördern wollen, dann brauchen alle einen gleich guten Zugang. Auch die eigenen Ressourcen entscheiden darüber, wie wir uns etwas gestalten können und ob wir den Luxus haben, schöne Spiele zu spielen – oder ob wir keinen guten Empfang haben oder einen Laptop, der das schafft.
Was erhoffen Sie sich von ihrer Habilitation?
Stapf: Ich möchte Grundlagen dafür schaffen, dass wir noch differenzierter über viele Themen sprechen können. Dass wir feinere Unterscheidungen treffen, aber immer mit Blick darauf, wie wir selbst entscheiden können, was für uns gut ist. Wie können wir als Gesellschaft entscheiden, was es für digitale Medien gibt und wie wir mit Grenzüberschreitungen umgehen? Und was heißt das mit Blick auf Kinder und Kindheiten heute? Hierüber sollten wir als Gesellschaft noch viele Diskurse führen. Und ich sehe hier auch Wissenschaft in der Verantwortung, dies konstruktiv zu begleiten und Orientierung zu schaffen.
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