Herr Hennig, lange Zeit galten Computerspiele als das Gegenteil von Kultur. Was hat sich geändert?  

Martin Hennig: Es hat sich neben dem Massenmarkt ein lebhafter Independent-Markt entwickelt, in dem Abweichungen von der Masse zelebriert werden: Wo es nicht darum geht, Gegner zu tilgen oder Gewaltexzesse zu durchleben, was man den Computerspielen immer so gerne unterstellt, sondern wo tatsächlich mit prekären Lebensformen, mit Rissen in bürgerlichen Familienmodellen, mit Gender-Rollen gespielt wird, wo Krankheiten verhandelt werden und dergleichen mehr. Gleichzeitig hat sich der Massenmarkt weiterentwickelt und selbst die Mainstream-Produktionen, die AAA-Spiele, gelten heute als erzählerisch sehr ausgefeilt. Das heißt nicht, dass Erzählungen in jedem Spiel und Genre zentral sind, aber sie sind mittlerweile ein zentraler Bestandteil von Computerspielen.

Was wird derzeit in Computerspielen gedacht, gewusst, verhandelt und problematisiert? Welche Wirklichkeiten werden dargestellt und welchen Gegenwelten gibt es?

Alles, was in Computerspielen dargestellt wird, muss immer irgendwie spielbar sein. Zur Rahmung dieser Spielhandlungen dienen immer wieder ähnliche Erzählmodelle:

Nach wie vor wird etwa im Gender-Bereich kritisiert, dass wir es mit sehr einfachen, konservativen Rollen-Stereotypen zu tun haben: der sehr männliche Mann als Held, der die passive Frau als Opfer retten muss.

Weil das so tradiert ist im Computerspielbereich, sind das genau die Rollen, die aber dann wieder von anderen Produktionen aufgegriffen, ironisiert oder vorgeführt und mit alternativen Modellen abgeglichen werden.

Die inhaltsanalytische Forschung ist noch nicht sehr ausdifferenziert, wie in der Literatur oder im Film. Bei der Tagung soll gefragt werden, ob Computerspiele, weil sie interaktiv sind, sich nicht auch in einer privilegierten kulturellen Stellung befinden: Sie können Komplexitäten und Realitäten heutiger digital organisierter Gesellschaften verhandeln. Im Computerspiel ist es beispielweise möglich, keine lineare Lösung zu propagieren, sondern verschiedene Lösungen nebeneinander stehenzulassen.     

Welche Rolle spielen Nationalismen in diesen digitalen Spielwelten?

Prinzipiell ist der Computerspiel-Markt extrem geprägt von Japan und den USA. Wir finden dann auch Stereotype genau aus diesen kulturellen Bereichen: In Action-Spielen kann man zum Beispiel Stereotype aus dem amerikanischen Kriegsfilm entdecken und auch die entsprechenden Selbst- und Fremdbilder im Spiel gut nachweisen. Spannend ist auch die Frage, was die Spieler mit den Spielen machen. Es gibt Player, die sich beim Spielen filmen und auf You tube veröffentlichen und dabei ihre Spielhandlungen kommentieren. Das ist ultraerfolgreich. Einer der bekanntesten deutschen Player bei "Let's play" ist mittlerweile Millionär. Man fragt sich, warum. Was macht dabei den kulturellen Reiz aus? Für uns Textwissenschaftler ist das hochinteressant, weil wir Spielprozesse als filmischen Text vorliegen haben und auch weiter analysieren können.

Fachtagung in Passau

Welche Wirklichkeiten Computerspiele verhandeln und nach welchen Regeln sie funktionieren, untersucht von 6. bis 8. Dezember 2018 eine Fachtagung an der Universität Passau. "Spielzeichen III. Kulturen im Computerspiel - Kulturen des Computerspiels" lautet der Titel. Es referieren unter anderem Wissenschaftler aus Berlin, Zürich und Leipzig.