Herr Erlinger, kann ich guten Gewissens die Fußball-WM in Russland ansehen?
Also ich glaube guten Gewissens, um jetzt diesen Begriff aufzunehmen, kann man es nicht. Weil das würde ja bedeuten, dass alles in Ordnung ist und man sich dabei richtig wohl fühlt. Und ich glaube, da muss man einhaken und muss sagen: das ist nicht unproblematisch.
Wo liegen denn die Probleme?
Ja, zunächst meint man - und das wird ja immer gesagt: der Sport ist ja unpolitisch und man soll den nicht verpolitisieren. Aber dabei übersieht man, dass ja diese gesamte WM politisch genutzt wird, auch vom Gastgeberland Russland. Propaganda wäre jetzt ein negativer Begriff, aber sie wird zumindest zu Selbstdarstellungszwecken genutz. Und somit ist sie selbst schon politisch. Es bezahlt der Staat die Stadien, es wird eine extrem hohe Summe ausgegeben. Und das hat ja ein Ziel und einen Sinn. Das ist zum einen eben diese Selbstdarstellung Russlands und zum anderen natürlich auch die von Präsident Putin und seinem System.
Herr Erlinger, könnten Sie das an einem Beispiel festmachen?
Ich glaube, man hat es ganz schön gesehen in den letzten Tagen, weil ja die ägyptische Nationalmannschaft in Tschetschenien ihr Basislager hat. Und der tschetschenische Präsident, der ja wirklich bekannt ist für schwerste Menschenrechtsverletzungen, mehr oder weniger unverblümte Lynchaufrufe gegenüber Homosexuellen und dergleichen, der hat sich dort mit den Spielern der ägyptischen Nationalmannschaft präsentiert und das zu seiner Propaganda und PR ausnutzt. Und da sieht man sehr deutlich, wie das funktioniert.
Heißt das: wer zuschaut, unterstützt das Regime?
In gewissem Sinne ja, Weil man einfach mit unterstützt, dass man das macht. Man kann ja nicht hier in Deutschland vor den Fernseher setzen und dann Eingangs des Spieles sagen: "aber ich bin gegen diese Politik." Das bewirkt nichts. Sondern über die Einschaltquote, über die Unterstützung der FIFA, die diese Entscheidung getroffen hat unterstützt man auch diesen Mechanismus.
"Übertragen gesagt steht man Fähnchen winkend am Straßenrand, wenn Herr Putin vorbeifährt."
Also: nur wer gar kein Gewissen hat, kann die Fußball-WM anschauen?
Naja, wenn man sonst kein Gewissen hat, müsste man sich auch keine Gedanken darüber machen, wenn man jemanden umbringt, wäre dann die nächste Folgerung. Ich will das jetzt nicht vergleichen, aber muss einfach sagen: zu sagen, ich habe da kein Gewissen, ist keine Entschuldigung dafür, dass man etwas nicht Richtiges tut und nicht nachdenkt.
Dr. Dr. Rainer Erlinger ist promovierter Mediziner, Jurist. Als Autor beantwortet er seit vielen "Gewissensfragen" in der Süddeutschen Zeitung. Auch in vielen seiner Bücher beschäftigt sich Erlinger mit moralischen Themen und ist damit quasi der Moralexperte Deutschlands.