Die Höflichkeit hat einen zweifelhaften Ruf. Den einen ist sie zu formal, für die anderen ist sie ausgestorben. Täuscht Höflichkeit nur etwas vor oder geht es um echten Respekt? Rainer Erlinger, bekannt durch seine Kolumne "Die Gewissensfrage" aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, umkreist die alte Tugend der Höflichkeit von ihren Rändern her, um dann zu ihrem Kern zu kommen.
Würden Sie mir die Tür aufhalten?
Rainer Erlinger: Das würde ich auf jeden Fall machen, weil ich jedem Menschen die Tür aufhalte als Zeichen, ihn wahrgenommen zu haben, und um ihm zu zeigen, dass ich ihn achte und respektiere.
Ist da auch Galanterie dabei, weil ich eine Frau bin?
Erlinger: Ich finde, das sollte gerade nicht davon abhängen, welches Geschlecht oder Alter jemand hat. Ich mache es, weil mein Gegenüber ein Mensch ist.
Wenn es Ihre Chefin wäre, würden Sie auch ihr die Tür aufhalten?
Erlinger: Ich würde es machen, obwohl sie meine Chefin ist - trotz der Bedenken, es könnte so aussehen, als ob ich mich einschleimen will.
Und wenn es Ihre Mitarbeiterin wäre, die in der Hierarchie unter Ihnen steht?
Erlinger: Die Höflichkeit beim Türaufhalten zeigt sich gerade dann, wenn der Vorgesetzte dem Untergebenen, der Lehrer dem Schüler die Tür aufhält.
Höflichkeit als humane Tugend - wie unterscheidet sie sich von der Etikette?
Erlinger: Viele Leute, die besonders gut in der Etikette sind und darin glänzen, wollen sich in ihrer eigenen Perfektheit spiegeln. Daran sieht man, dass das Beachten der Etikette gar nicht dem Gegenüber dient, sondern umgekehrt demjenigen, der sie beherrscht.
Mit den Benimmregeln lassen sich Menschen ausschließen, die unwissend sind?
Erlinger: Die Etikette ist etwas, was die gehobenen Kreise beherrscht haben und die anderen nicht. Die Etikette war ein Abgrenzungsmittel. Deshalb kann sie ein gewalttägiges Mittel sein, weil über denjenigen, der nicht den richtigen Anzug hat, nicht die Krawatte richtig binden kann, nicht weiß, welches Messer man bei einem feinen Dinner nimmt, leicht die Nase gerümpft wird von denjenigen, die es können.
Wie ehrlich ist man, wenn man höflich ist. Ist ein Kompliment nicht zugleich auch eine Lüge?
Erlinger: Wenn man jemanden zehn Jahre nicht gesehen hat und sagt 'Sie haben sich aber gar nicht verändert', dann wissen doch beide, dass das nicht stimmt. Aber die Nachricht, die man damit übermittelt, ist doch, dass ich etwas Schönes sagen möchte. Das mache ich mit einer Formulierung, über die wir beide schmunzeln. Das ist dann nicht gelogen, weil wir uns einig sind, dass es ein Spiel ist.
Was ist so wertvoll an dieser scheinbar wertlosen Tugend Höflichkeit?
Erlinger: Inhaltlich geht es um Achtung für das Gegenüber. Außerdem, und das halte ich für nicht weniger bedeutend, ermöglicht die Höflichkeit, einen gesitteten Umgang miteinander, auch dann noch, wenn man sich nicht mag oder widerstreitende Interessen hat. Dadurch ist die Höflichkeit eine Möglichkeit der Streitvermeidung.
Warum sind die Umgangsformen im Internet so grauenvoll?
Erlinger: Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt: In dem Moment, in dem man Webcams installiert, so dass man die Augen sehen kann, nimmt die Anzahl der unhöflichen Postings rapide ab. Den meisten ist nicht bewusst, dass sich hinter der Tastatur und dem Bildschirm ein Mensch verbirgt.
Sollen wir höflich sein aus humanistischen oder christlichen Gründen?
Erlinger: Sigmund Freud hat sinngemäß so schön geschrieben: "Liebe den Nächsten wie dich selbst: Das ist eine Zumutung, wenn der Nächste ein Widerling ist." Aber ich kann trotzdem höflich mit ihm umgehen. Das Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, überfordert meiner Meinung nach jeden, der nicht heilig ist. Aber man kann mit Menschen, die man nicht mag, auf der Ebene der Höflichkeit umgehen.
Katholiken knien in der Kirche nieder. Muss das ein Protestant auch tun, wenn er in eine katholische Kirche geht?
Erlinger: Die Katholiken knien vor demselben Gott, vor dem der Protestant steht. Da haben offenbar beide ihre jeweils eigene Form, die zu ihrem Glauben gehört. Wenn man zu einem anderen Gott betet, dann fände ich es falsch, wenn man eine Unterwerfungsgeste vor einem Gott macht, den man nicht anerkennt. Das fände ich verlogen. Für mich ist die Höflichkeit begründet auf Achtung und Respekt, die kann zum Aufstehen zwingen. Zum Beispiel der Respekt vor den Gläubigen, deren Gotteshaus oder Zeremonie ich besuche. Aber ich bin nicht verpflichtet, mich zu unterwerfen. Das Knien ist ganz klar eine Unterwerfungsgeste.
Welche Höflichkeit schuldigen die Nichtgläubigen den Gläubigen zum Beispiel an Karfreitag?
Erlinger: Die Höflichkeit gebietet, den anderen zu achten, mitsamt seiner für den anderen vielleicht völlig unverständlichen Einstellung. Deshalb würde man sagen: Wenn von der Seite der Gläubigen den Nichtgläubigen verboten würde, was sie in geschlossenen Räumen an einem bestimmten Tag machen, dann versuchen sie, ihre Vorstellung anderen überzustülpen. Umgekehrt: Wenn diejenigen, die an Karfreitag tanzen wollen, das unbedingt am Vorplatz der Kirche machen wollen, wollen sie eigentlich nicht tanzen, sondern anderen ihre Meinung aufzwingen.
Halten Sie sich selbst an Ihre Maßstäbe?
Erlinger: Ich bemühe mich natürlich. Aber ich bin auch nur ein Mensch, und damit 'fehlbar'. Und wenn ich in eine Zwickmühle komme, frage ich auch andere, die mir dann sagen: "Das ist eine typische Frage, die du selbst beantworten müsstest."
Gehen Sie nachts bei Rot über die Ampel?
Erlinger: Egal was ich mache, es ist falsch. Wenn ich rübergehe, sagen die Leute: "Siehst du, er predigt Stehenbleiben und geht rüber." Wenn ich stehenbleibe, sagen die Leute: "Schau dir diesen Moralapostel an, der will uns zeigen, dass er auch nachts stehenbleibt." Lassen wir es einmal offen, wie ich mich in diesem Fall verhalten würde...
Rainer Erlinger im Radio - Teil 1
Rainer Erlinger im Radio - Teil 2
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