Aktiv ist vom damaligen Team keiner mehr, aber irgendwie war fast jeder Hofer mit dabei. "Es herrschte wochenlang Ausnahmezustand", erinnert sich Anne Müller. Die heute 82-Jährige war von 1974 bis 1997 als hauptamtliche Mitarbeiterin der Caritas für die Bahnhofsmission zuständig. Auch damals war sie mitten im Geschehen, wie überhaupt die Bahnhofsmission vor 30 Jahren eine wichtige Rolle spielte.

Zugegeben, Bahnhofsmission, das klingt wie aus einem alten Film. Tatsächlich wurden andere Stationen in Franken, etwa in Bamberg oder dem ehemaligen Grenzbahnhof Ludwigsstadt, längst geschlossen. Nicht so in Hof, einem der größten Umsteigebahnhöfe Bayerns. Frank Schaal (57), heute der einzige hauptamtliche Mitarbeiter der Einrichtung, die von Caritas und Diakonie gemeinsam getragen wird, kommt auf rund 14.000 Kontakte jährlich, das sind rechnerisch 38 Begegnungen und damit Hilfeleistungen pro Tag. Samstag und Sonntag hat die Bahnhofsmission mittlerweile geschlossen.

Ungefähr zwei Drittel der Kontakte finden draußen auf dem Bahnsteig statt, ein Drittel sucht die drei hohen Räume am Ende des Bahnsteiggebäudes auf. Die Deutsche Bahn stellt sie kostenlos zur Verfügung, alles andere läuft über Geld- und Sachspenden.

"Wir haben so gut wie keine Sponsoren", klagt Annemarie Meyer von der Caritas.

Die Palette der Hilfeleistungen reicht von der einfachen Auskunft über Erste Hilfe bis hin zu der Funktion als Wärmestube für Obdachlose. "Getränke und Gebäck sind immer da", sagt Schaal, für den Kaffee müsse man 30 Cent verlangen. Sogar eine kleine Kleiderkammer gibt es vor Ort. "Vieles hat sich geändert, die soziale Kompetenz ist heute wichtiger geworden", so Susanne Kleinlein von der Diakonie. Sie bezeichnet die Bahnhofsmission als ganz wichtiges niederschwelliges Angebot und als neutrale Vermittlungsstelle.

Wenn Schaal und seine Mitstreiter damals auch noch nicht bei der Bahnhofsmission waren, so waren sie doch am Bahnhof, als die völlig überfüllten Züge teilweise im Viertelstundentakt ankamen. Es gibt kaum einen Hofer, den dies damals kalt gelassen hätte. Verplombte Züge, so was hatte damals noch keiner gesehen. Bei den Zügen, die über Ungarn kamen, hatten die Flüchtenden nicht einmal mehr einen Pass. "Man hat ihnen praktisch ihre Identität genommen", schüttelt er noch heute den Kopf.

Kleinlein erinnert sich noch an die großen Berge mit Kleiderspenden, die 1989 von Hofer Bürgern in Windeseile gesammelt worden waren.

"Da sind einem schon die Tränen gekommen", sagt sie. Werner Roland (65), der seinerzeit bei der Stadt Hof beschäftigt war, half mit, das Begrüßungsgeld auszuzahlen. In seiner alten Aktentasche trug er tatsächlich rund 100.000 D-Mark durch die halbe Stadt.

"Es war schon eine tolle Zeit", sagt Müller, die damals die Bahnhofsmission leitete. Die Züge seien unvorstellbar vollgestopft gewesen, die Bahnsteige ebenfalls: "Ich bin froh, dass es weder Tote noch Schwerverletzte gab", so Müller. Besonders eindrucksvoll habe sie auch die Solidarität der Hofer empfunden, die nach entsprechenden Aufrufen im Lokalradio ganze Familien aus der DDR kurzerhand bei sich übernachten ließen. So auch Kleinlein, die sogar heute noch Kontakt zu den Menschen von damals hat.

Für Schaal hatte das Ganze auch etwas Unheimliches. Man sei sich schon bewusst gewesen, "dass, was passiert". Für ihn sei spätestens dann offensichtlich gewesen, dass die DDR keinen Bestand hat, als er beruflich kurz darauf zum ersten Mal überhaupt nach Sachsen kam. 20 DDR-Pfennige habe ein Stück Kuchen gekostet, bei einem damaligen Wechselkurs von 1:3, also, sieben Pfennige nach West-Rechnung.

"Da war für mich klar, dieses System kann nicht weiter existieren."