Herr Ziemann, warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Benjamin Ziemann: Zum einen wusste ich, dass es keine wirklich aufschlussreiche Biographie gab. Zum anderen lassen sich an Niemöllers spannendem Lebenslauf einfach wichtige Fragen des deutschen 20. Jahrhunderts vom späten Kaiserreich bis zum NATO-Doppelbeschluss wie in einem Brennglas nachzeichnen. Jedenfalls meine ich, wir müssen noch einmal sehr scharf über Niemöllers Rolle in der Erinnerungskultur der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik nachdenken. Gerade seine Hauskirche in Hessen und Nassau sollte sich vielleicht mal dazu durchringen und sich kritisch fragen, ob man Niemöller vielleicht doch mal hinterfragen sollte. Meiner Meinung nach ist es einfach nicht mehr machbar, Niemöller biografisch zu verehren.

Nationalprotestantismus – Judenhass – Atomkraftgegner – Martin Niemöllers Biografie überrascht immer wieder mit neuen Facetten, die seine Persönlichkeit und sein Bild letztlich ausmachen. Was sind Ihrer Meinung nach die Konstanten in seinem Leben?

Ziemann: Prägend waren für ihn auf alle Fälle seine Jahre als Berufsoffizier bei der Marine, was ihn auch während des Zweiten Weltkrieges zur Überlegung brachte, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Diesen Offiziers-Habitus hat er aber auch nach 1945 nie ganz abgelegt, was dazu führte, dass er sich noch am Lebensende im Kreise seiner alten Kameraden mit am wohlsten fühlte. Das ist zum einen eine Form der Geselligkeit im Alter, wenn die Zahl der alten Freunde naturgemäß immer weniger wird. Aber die Erfahrungen der Jugend waren so intensiv, dass sie ihren Bogen bis ins hohe Alter schlagen.

Nach der Lektüre Ihres Buches entsteht der Eindruck, Niemöller war privat kein allzu sympathischer Zeitgenosse im landläufigen Sinn. Was denken Sie?

Ziemann: Schon seine Mitarbeiter in der "Bekennenden Kirche" haben berichtet, dass er oft sehr aufbrausend war und auch mal herum gebrüllt hat. Solche Berichte über seine Persönlichkeitsstruktur gibt es auch von Weggefährten nach 1945. Ich würde das aber nicht überbewerten. Dies kommt sicher nicht zuletzt durch seine Prägung durch das Militär, wo die Leute ja auch nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Wichtiger ist, wenn man sein Charakterbild verstehen will, seine Unaufrichtigkeit nach dem Krieg.

Wir kannten Niemöller ja bislang als jemanden, der zwar über seine Schuld und die der Deutschen spricht. Wenn man aber genauer nachbohrt, wie ich das getan habe, stellt man fest, dass er seine eigene Beteiligung als Faschist der ersten Stunde im ersten faschistischen Massenverband im Jahr 1920 und seinen völkischen Antisemitismus sehr geschickt verschleiert und herunter gespielt hat, bis hin zu gezielten Desinformationen. Gerade jemand, der öffentlich mit diesem Anspruch der Aufrichtigkeit und der Gewissensbindung antritt, da passt das eigentlich nicht ganz zusammen.

Niemöller hat demnach seine Biografie geschönt?

Ziemann: Schon seine erste Teilautobiographie "Vom U-Boot zur Kanzel" enthält viele Verharmlosungen, über einiges wird bewusst der Mantel des Schweigens gedeckt. Letztlich ist dieses Werk aber ein "Marinebuch" wie viele anderer seiner Zeit über Marineerfahrungen im Ersten Weltkrieg. Niemöller wollte mit diesem Buch auch zeigen, dass er genauso wie die Nazis für die Nation eintritt, allerdings in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen. Bedenklicher sind da eher die autobiographischen Darstellungen von Schlüsselmomenten wie dem Prozess, der ihm 1938 gemacht wurde oder dem Führerempfang in der Reichskanzlei 1934, um die Geschichten gesponnen werden, die mit dem was Niemöller sonst so im Dritten Reich gemacht hat wenig zu tun haben. Zum Beispiel seine Ablehnung der Juden oder seine KZ-Haft.

Ist Niemöller aber da nicht einfach Kind seiner Zeit?

Ziemann: Es gibt in Niemöllers Lebenslauf durchaus Menschliches und Tragisches genug, das er gerade im Dritten Reich erlebt hat. Ich denke da an das Schicksal seiner Kinder, eine Tochter verstarb durch Krankheit, ein Sohn fiel an der Ostfront. Das sollte man aber nicht in Beziehung setzen zum Kern seiner Identität. Da ist eben diese nationalistische Grundorientierung vom späten Kaiserreich bis in die Mitte der 1950er-Jahre. Mir geht es in meinem Buch nicht um ein Charakterbild, ich will diese Kontinuitätslinien aufzeigen, die Niemöller ausgemacht haben: die Militärtradition, der Nationalprotestantismus und der Antisemitismus.

Was ist denn trotz allem der ewige Verdienst Niemöllers für die evangelische Kirche?

Ziemann: Auf jeden Fall die Wiederaufnahme der evangelischen Kirchen Deutschlands in den Kreis der evangelischen Kirchen in Europa und der Welt, vorrangig durch sein Mitwirken am Stuttgarter Schuldbekenntnis. Außerdem ist Niemöller eine wichtige Person in der Entwicklung des Linksprotestantismus ab den 1960er-Jahren, wo er im hohen Alter eine Gallionsfigur wurde, weil er sich kritisch gegenüber der damaligen Bundesregierung geäußert und soziale Protestbewegungen unterstützt hat. Beim Krefelder Appell als Antwort auf den NATO-Doppelbeschluss war Niemöller 1980 ja als Erstunterzeichner und Symbolfigur sehr wichtig, weil er sich für die Abkehr der deutschen Militärtradition einsetzte. Vielleicht sieht man in diesem Kreis der einstigen Friedensbewegung aber erst heute beziehungsweise nach meiner Biografie, wen man sich da als Vorbild ins Haus geholt hat.

Wie würden Sie Martin Niemöllers Relevanz für die "Barmer Erklärung" einordnen?

Ziemann: Er hatte mit dem Verfassen des Textes gar nichts und dem Inhalt selbst nur wenig zu tun. Vielmehr war Niemöller als generalstabsmäßiger Organisator der Barmer Gespräche aktiv. Ich versuche in meinem Buch dafür seinen Kollegen und Barmen-Mitverfasser Hans Asmussen stärker in den Fokus zu rücken, ein Theologe, der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Ohne seinen Freund Asmussen hätte Niemöller überdies die langen Jahre der Haft im KZ wohl nicht überstanden. Niemöller hat sich die Barmer Erklärung aber natürlich zu Eigen gemacht und ihren Inhalt nach außen hin stark vertreten.

Während seiner KZ-Haft hatte Niemöller ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, zum katholischen Glauben zu konvertieren. Wenn er diesen Schritt vollzogen hätte, würden wir heute noch über ihn reden?

Ziemann: Seine Rolle wäre dann vielleicht eher eine spirituelle, weniger eine politische geworden. Sein ganzes Tun nach 1945 und auch das Kokettieren mit dem Auswandern in die USA, wo er sich bei Baptisten in einer Freikirche niederlassen wollte, weißt eigentlich daraufhin, dass es Niemöller immer mehr um ein einfacheres spirituelles Wirken ging, wie er es anfangs als Gemeindepfarrer ja mal hatte.

Noch eine Spekulation: Hätte Niemöller Facebook, Instagram & Co. gehabt, hätte er davon eifrig Gebrauch gemacht?

Ziemann: Der Narzissmus oder die Neigung zur Selbstdarstellung war auf alle Fälle da. Niemöller hatte aber zeitlebens seine Auseinandersetzung mit den Medien, die ihn seiner Meinung nach immer falsch dargestellt haben. 

Benjamin Ziemann, geboren 1964, ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield und Fellow der Royal Historical Society. Er ist der Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sein Buch "Gewalt im Ersten Weltkrieg" (2013) ist mit dem Preis Geisteswissenschaften International ausgezeichnet worden. Er ist Mitherausgeber des Manuskripts "Gedanken über den Weg der christlichen Kirche", das Martin Niemöller 1939 im KZ Sachsenhausen verfasst hat. Benjamin Ziemann gilt als einer der international führenden Experten für die deutsche Geschichte von 1914 bis 1933 und ist Mitherausgeber von "Die Weimarer Republik. Ein Handbuch".

Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield und Fellow der Royal Historical Society.

Benjamin Ziemann: Martin Niemöller

Der Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984) ist als Mitbegründer der Bekennenden Kirche und durch seine Reden zur Schuld der Deutschen nach 1945 bekannt. Dabei war er als Student in völkischen und antisemitischen Parteien und Verbänden aktiv und begrüßte 1933 die NS-Machtergreifung. Auch nach 1945 trat seine Judenfeindschaft wiederholt hervor. Benjamin Ziemann rekonstruiert die Biographie eines streitbaren Kirchenpolitikers und Nationalisten, der die Weimarer Republik ebenso ablehnte wie Adenauers Politik der Westbindung und den Parteienstaat der Bundesrepublik. Nach 1945 wurde Niemöller zum Pazifisten - und blieb doch dem Habitus des kaiserlichen Marineoffiziers treu. In diesem Leben voller dramatischer Momente, Widersprüche und persönlicher Krisen werden die Umbrüche und Kontinuitäten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert anschaulich.

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