"Biopic" heißen im Film-Englisch ins Spielfilmformat dramatisierte Lebensgeschichten. Mit um Faktentreue und historische Genauigkeit bemühten Dokumentarfilmen darf man sie nicht verwechseln. Vielen Experten dürften sich beim Ansehen des Biopic "Bonhoeffer" von Todd Komarnicki an mehreren Stellen die Zehennägel aufrollen.
Die Liste der Fehler dieses Films scheint endlos: Sie reicht von einer seltsamen Leuchtschrift, die im Fenster einer Gaststätte, die Dietrich und seine Freunde für konspirative Treffen nutzen, für "Pezelius Kaffe" wirbt, bis hin zum Schild an der Dorfschule, in der Bonhoeffer mit Mitgefangenen sein letztes Abendmahl feiert. Die Dorfschule, das Abendmahl im Kreis von Mitgefangenen, all das stimmt zwar, war aber nicht in einem "Schön_e_berg", sondern in Schönberg bei Grafenau, 40 Kilometer nördlich von Passau gelegen. Und die Schreibweise "Kaffe" war sogar in der Zeit des Nationalsozialismus Quatsch.
Summe holpriger Ungenauigkeiten
Die Summe der vielen derartig holprigen Ungenauigkeiten ist bei "Bonhoeffer" so groß, dass der Film es Menschen, die sich schon einmal mit Dietrich Bonhoeffer beschäftigt haben, schwer macht, sich freimütig auf ihn einzulassen. Nicht einmal der Ort oder das Datum noch die Umstände seines Todes stimmen im Film mit den historischen Fakten überein. Dabei ist Jonas Dassler ein wirklich berührender Dietrich Bonhoeffer, der mit seinem eindringlichen Spiel in Erinnerung bleibt.
Der Film ist konventionell gemacht, immer wieder mit eindrucksvollen Bildern. Sie spiegeln jedoch stets, dass seine Macher nicht mit deutschen Augen auf die Geschichte blicken, sondern dass wir es mit einem imaginierten Bonhoeffer-Deutschland, mit einem imaginierten Kirchenkampf zu tun haben. Gedreht wurde in Belgien und Irland. Auch das sieht man dem Film mitunter an.
Kormanicki erzählt seine Geschichte in Rückblenden: Während Bonhoeffer auf seiner letzten Fahrt dem Tod entgegengeht, notiert er Erinnerungen in sein Tagebuch: an seinen Bruder Walter, der im Ersten Weltkrieg fiel, an seine Zwillingsschwester Sabine, mit der er die Trauer über diesen Verlust teilte. Ein tragender Erzähleinfall funktioniert über Idiosynkrasien, jene kleinen Eigenheiten, Formulierungen und Codes, die man nur in einer Liebesbeziehung oder in der Familie verwendet und versteht. Erdbeeren werden dabei zum Symbol der Unsichtbarkeit, für unser menschliches Versteckspiel, für Versuche, sich vom Schicksal fernzuhalten.
Film legt Akzent auf Bonhoeffers USA-Aufenthalte
"Bonhoeffer" bietet auch Entdeckungen. Der Film legt einen wesentlichen Akzent auf Dietrich Bonhoeffers USA-Aufenthalte, insbesondere die Erfahrungen, die der junge deutsche Theologe in Harlem mit der Gospel-Spiritualität des schwarzen Amerikas machte. Dabei griff Regisseur Todd Komarnicki auf "Bonhoeffer’s Black Jesus", die Dissertation des schwarzen US-Theologen Reggie Williams zurück, die bisher noch nicht auf Deutsch vorliegt. Frank Fisher, Bonhoeffers schwarzer Kommilitone am New Yorker Union Seminary, nahm ihn mit in seine Gemeinde, die Abyssinian Baptist Church, wo Bonhoeffer, wie auch im Film gezeigt, Sonntagsschule hielt.
Frei erfunden ist hingegen, dass Bonhoeffer in Harlem den Jazz-Club Small’s Paradise besuchte und dort so vom Jazz-Fieber ergriffen wurde, dass der begabte Klavierspieler gleich selbst mitjammte. Richtig ist wiederum, dass Bonhoeffer Platten mit "Negro Spirituals" aus Amerika mitbrachte und sie im Bekenntnis-Seminar in Finkenwerder seinen Studenten vorspielte. Frank Fisher begleitete Bonhoeffer nach Washington D.C., wo man gemeinsam das Memorial des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln besuchte. Im Seminar schrieb Bonhoeffer Lincolns berühmte "Gettysburg Address" sorgfältig ab. Und nach Hause schrieb er, was man heute so nicht mehr schreiben würde: "Unter den Negern" seien sehr viele interessante Leute.
Kein cineastisches Meisterwerk, aber auch kein christlicher Nationalismus
Todd Komarnickis "Bonhoeffer" eilte vor seinem Start in Deutschland ein ziemlich schlechter Ruf voraus. In einer gewissen Nervosität bildeten sich gar kirchliche Arbeitsgruppen, um dem "umstrittenen" Film beizukommen. Das lag nicht zuletzt daran, dass man dem Film nachsagte, die deutsche evangelische Heiligengestalt des 20. Jahrhunderts mit rechten Narrativen zu kapern. Sieht man den Film, wird man zu diesem Urteil kaum kommen können. Nur wenige werden in dem Film, der eher frommer Sandalenfilm in Nazistiefeln ist, ein cineastisches Meisterwerk sehen wollen. Aber ihm nachzusagen, zeitgenössischen christlichen US-Nationalismus zu befördern, wäre üble Nachrede.
Regisseur Todd Komarnicki ist keiner aus der allerersten Riege Hollywoods. Er hat 2003 die erfolgreiche Weihnachtskomödie "Elf" produziert, viel Fernsehen gemacht und 2015 viel Kritikerlob für sein Drehbuch zu "Sully" erhalten. Unter der Regie von Clint Eastwood und mit Tom Hanks in der Hauptrolle erzählt der Film die Geschichte von Flugkapitän Chesley "Sully" Sullenberger, der 2009 mit seinem Passagierflugzeug im Hudson River notlandete und so allen 155 Passagieren und der Crew das Leben rettete.
Komarnicki ist bekennender Christ, hinter dem "Bonhoeffer"-Projekt steht eine christliche Produktionsgesellschaft namens Angel Studios aus Provo in Utah. Gegründet wurden die Angel Studios von vier Brüdern, die 2014 mit dem christlichen Streamingdienst VidAngel anfingen. Ihre Idee: ein Filter, mit dem Kunden "problematische" Filmszenen (also Sex und Gewalt) stumm schalten oder überspringen konnten.
Zahlreiche Hollywood-Studios verklagten den Dienst wegen Urheberrechtsverletzungen mit Millionenforderungen. Am Ende einigte man sich, doch VidAngel hatte bei einem Crowdfunding-Aufruf binnen weniger Tage zehn Millionen Dollar zusammen und verlegte sich fortan darauf, selbst Filme zu produzieren. 2021 kaufte man für zwei Millionen Dollar die Domain angel.com und aus VidAngel wurden die Angel Studios. Begleitet wird das Projekt von Angel Investors, der sogenannten Angel Guild mit 400 000 Mitgliedern. Sie sprechen bei der Auswahl der Projekte mit. Auch "Bonhoeffer" trägt das Siegel "Angel Guild Approved".
"Bonhoeffer" erzählt moderne Heiligengeschichte – inklusive Kitsch
Todd Komarnicki erzählt eine moderne Heiligengeschichte und schreckt dabei auch vor Kitsch nicht zurück. Wie die Heiligengestalten in der Geschichte wird auch Dietrich Bonhoeffer von den unterschiedlichsten Gruppen und Interessen in Anspruch genommen. Für die einen ganz klar ein Konservativer, ist der Verfechter eines "religionslosen Christentums" und entschiedener Jesus-Nachfolge für die anderen ganz klar ein Progressiver, der versucht, den Glauben vom Dogmatismus zu befreien. Befreiungstheologen berufen sich ebenso auf ihn wie pietistische Gruppen, Kritiker der verfassten Kirchen ebenso wie das Leitungspersonal dieser Kirchen.
Auch "Bonhoeffer" nimmt Bonhoeffer in den Dienst seiner Sache. Und die ist, die Christusförmigkeit von Dietrich Bonhoeffers Leben auszustellen. Die Rolle des teuflischen Versuchers spielt darin der Münchner KZ-Arzt Sigmund Rascher (1909-1945). James Flynn (Titelbild Seite 1) spielt den NS-Medizinverbrecher, der im KZ Dachau mit grausamen Versuchen viele Menschen zu Tode quälte. Für die Luftwaffe führte er tödlich endende Unterdruck- und Unterkühlungsversuche an Häftlingen durch. Im März 1944 wurden Rascher und seine Frau verhaftet. Eine Reihe von Verbrechen kam ans Licht, Kindesentführung, Betrugsdelikte, Unterschlagungen und "Geschäfte" wie der mutmaßliche Mord an einer Freundin des Paars. Beide kamen selbst ins KZ, wo sie schließlich auch ihr Ende fanden. Bonhoeffers Begegnung mit Rascher ist belegt: Beide saßen gemeinsam im Bus, der die Häftlinge nach Flossenbürg brachte. Rascher wurde in Dachau gut zwei Wochen nach Bonhoeffers Tod per Genickschuss hingerichtet.
Am Ende öffnet sich bei "Bonhoeffer" der Himmel. Die bisher grau-trüben Farbwerte des Films verwandeln sich während des letzten Abendmahls in golden-warmes Licht. Dann übergibt Dietrich Bonhoeffer seine Aufzeichnungen und die alte Bibel seines Bruders an den "guten Schergen", der an den legendären römischen Soldaten Longinus bei Jesu Kreuzigung denken lässt. Der Film-Bonhoeffer sagt zu ihm: "Gib das meiner Mutter und sag ihr, dass ich keine Erdbeeren darin gefunden habe. Aber meine Worte." Denn genau das wollen uns Todd Komarnicki und sein "Bonhoeffer" sagen: dass man sich als Christ nicht auf Dauer unsichtbar machen kann, wenn man es ernst meint mit dem Christsein.
Kinos, Veranstaltungen und weitere Informationen findet ihr hier.
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden