In nur vier Monaten von Mai bis September 1945 bricht eine alte Welt zusammen, und eine neue tut sich auf. Oliver Hilmes hat sich nach seinen Biografien von Ludwig II. oder Cosima Wagner in seinem Buch "Ein Ende und ein Anfang" mit dem ersten Sommer nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beschäftigt.
Herr Hilmes, zum 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, erscheinen 80 Jahre später gleich mehrere Bücher. Wie wollten Sie das Thema in Ihrem Werk angehen?
Oliver Hilmes: Ich wollte ein Buch über das Ende des Zweiten Weltkriegs schreiben, ohne Militärgeschichte erzählen zu müssen. Mir ging es nicht darum, was in den letzten Kriegswochen oder -monaten passiert oder sich im sogenannten Führerbunker ereignet hat. Das ist meiner Meinung nach auserzählt. Deshalb habe ich auch im Grunde die ersten vier Monate dieses Jahres 1945 komplett weggelassen. Mein Buch beginnt mit dem 8. Mai, mit dem Tag der deutschen Kapitulation in Europa, und endet am 2. September mit der japanischen Kapitulation. Wir dürfen aus unserer europäischen Perspektive heraus nicht vergessen, dass bis dahin im Pazifik weitergekämpft wurde. Deshalb ist gerade in Amerika der 2. September das wichtigere Datum als der 8. Mai. So hat sich der Erzählhorizont meines Buches praktisch von selbst ergeben. Mein Buch ist im Grunde das Buch eines ersten Sommers in Freiheit. Dazu wollte ich möglichst viele Perspektiven zusammenführen. Deshalb kommen darin auch Geschichten aus Deutschland und Europa vor, aber auch aus Amerika, Asien oder Russland.
Sie beschreiben detailliert Episoden der Potsdamer Konferenz, was Stalin, Truman oder Churchill gesagt haben oder auf der Speisekarte stand, ebenso wie die Schicksale kleiner Bürger. Wie sind Sie auf diese Personen und die ganzen Kleinigkeiten aufmerksam geworden?
Historiker haben in der Regel einen Fetisch, und das sind Quellen und Archive. In all meinen Büchern war mir diese Quellenarbeit immer total wichtig, auch wenn es nur ein Wetterbericht oder ein noch so banal erscheinendes Detail ist. Ich erzähle beispielsweise von Gustav Senftleben, zu dem eine polizeiliche Ermittlungsakte im Landesarchiv Berlin existiert. Senftleben war ein armes Schwein. Er hat den Krieg zunächst mit Ach und Krach überlebt, wurde dann aber fahnenflüchtig, geriet in die Fänge der Justiz und sollte noch in den letzten Kriegstagen hingerichtet werden. Diese Hinrichtung scheitert daran, dass irgendwann der Krieg zu Ende ist und wahrscheinlich der Henker auch Reißaus genommen hat. Senftleben hat durch einen glücklichen Zufall überlebt. Und was macht er daraus? Bei der ersten Gelegenheit in Freiheit besäuft er sich und erschlägt im Suff einen Mann. Nach dem Ende des Naziterrors endete auch das neue Leben sehr bald für ihn. Ich fand, in dieser kleinen Geschichte steckt eine unglaubliche Tragik.
Ebenso wie die von Marta Hillers, die auf die Rückkehr ihres Mannes von der Front wartet, von den Besatzern immer wieder vergewaltig wird und dann keine Beziehung zu ihrem zurück gekehrten Gatten aufbauen kann. Wie sind Sie auf diese Frau gestoßen?
Marta Hillers hat ja ihre Erinnerungen bereits 1959 veröffentlicht, allerdings anonym, denn sie wollte ihren Namen nicht auf dem Buchcover sehen. Auf diese veröffentlichte Autobiografie konnte ich zurückgreifen.
Warum war es Ihnen wichtig, dass auch Klaus und Thomas Mann in dem Buch vorkommen?
Ich wollte auch die Perspektive der deutschsprachigen Emigranten in den USA aufgreifen. Kalifornien war ja eine Hochburg der deutschsprachigen Emigration, und natürlich war Thomas Mann einer der prominentesten Vertreter dieser Deutschsprachigen. Thomas Mann hat sich von dort aus immer wieder politisch geäußert in seinen Reden an Deutschland, den Radio-Übertragungen und verschiedenen anderen Formaten. Ich habe mich gefragt: Wie haben die Leute, die vor den Nazis fliehen mussten, das Ende der Naziherrschaft empfunden? Thomas Mann hat unglaublich viel in seinen Tagebüchern notiert, deshalb war er eine wichtige Quelle. Das gilt aber auch für seinen Sohn Klaus. Der kehrte als amerikanischer Soldat kurz nach der deutschen Kapitulation nach Deutschland zurück und schrieb im Mai und Juni für die amerikanische Soldatenzeitung "Stars and Stripes" Berichte. Das heißt, wir haben also auch die Stimme eines gebürtigen Deutschen, der in dieses zerstörte Land zurückkehrt und seine Beobachtungen macht. Dann trifft er so unterschiedliche Persönlichkeiten wie den Komponisten Richard Strauss oder in Bayreuth Winifred Wagner. Das waren spannende Begegnungen.
In Krisenzeiten wenden sich Menschen oft dem Glauben oder der Kirche wieder zu – oder gerade von beidem ab. Welche Rolle haben diese Überlegungen bei den Menschen damals gespielt?
Das kann ich so pauschal nicht beurteilen. Aber es kommen im Buch zwei Szenen vor, die dazu passen. Da gibt es diesen baden-württembergischen Pfarrer, der sich über das unsittliche Verhalten der Frauen gegenüber den amerikanischen Soldaten aufregt. Oder den US-Präsidenten Harry Truman, der in Potsdam während der Konferenz einem Gottesdienst besucht und unmittelbar danach den Befehl für den Abwurf der Atombombe gibt. Wahrscheinlich hat er vorher noch eine gute Predigt gehört.
Ihr Buch hat 250 Seiten. Ich behaupte mal, Sie hätten auch tausende mehr schreiben können. Wie fiel die Qual der Wahl aus?
Ich schreibe ja einen literarischen Text, und das ist etwas anderes als eine reine Quellensammlung. Wenn man ein Thema verdichten will, muss man auch eine Auswahl treffen, und jede Auswahl ist natürlich fragwürdig. Bei mir hat sich im Laufe meiner Recherchen aus vielen kleinen Mosaiksteinen ein großes Bild zusammengesetzt. Natürlich hätte man noch viele weitere Begebenheiten, Ereignisse und Schicksale hinzunehmen können. Aber wird dadurch die Aussage besser? Das muss nicht sein.
Sind Ihnen so etwas wie regionale Unterschiede aufgefallen, wie die Menschen mit ihren Schicksalen und dem Alltag umgegangen sind?
Es gab Städte wie beispielsweise Köln, die ich in der Adenauer-Episode ja auch beschreibe, die entsetzlich zerstört waren. Da hatten die Menschen mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, als es in einer Stadt, die vielleicht nur peripher zerstört wurde. Viele hatten die Wahrnehmung, dass außerhalb der großen Städte die Versorgungslage besser war und dass es die Städte in West- und Süddeutschland etwas besser hatten als die im Osten. Insofern haben sicherlich Menschen, die etwa auf der Schwäbischen Alb gelebt haben, den Sommer ´45 sicherlich anders empfunden als jemand, der im zerstörten Köln lebte.
Der Sommer 1945 – welche Parallelen lassen sich zu Sommer 2025 ziehen?
In Europa findet seit dem Februar 2022 ein brutaler Krieg statt. Doch auch dieser Krieg wird irgendwann, hoffentlich sehr bald, ein Ende finden. Doch wie werden dieses Ende und der darauffolgende Neuanfang aussehen? Präsident Harry S. Truman hat unter dem Eindruck seiner Erfahrungen mit der stalinistischen Sowjetunion in der Nachkriegszeit die amerikanische Außenpolitik neu ausgerichtet. Jede Nation sollte nach seiner Ansicht zwischen alternativen Lebensformen wählen können. Er versprach, den freien Völkern, die drohten, in die Hände Moskaus zu fallen, militärisch beistehen zu wollen. Diese Garantie, die als Truman-Doktrin in die Geschichte eingehen sollte, löste die seit den 1820er-Jahren geltende Monroe-Doktrin ab, der zufolge sich die USA nicht in europäische Angelegenheiten einmischen wollten. Genau das scheint aber wieder die Devise der US-Außenpolitik unter Donald Trump sein. Doch wer schützt dann Europa? Fragen wie diese machen den Blick auf 1945 so spannend und brandaktuell! Wir werden sehen, wie es weitergeht. Man kann also sagen: Das Jubiläum des 8. Mai 1945 holt uns gerade mit einer gewissen Kraft wieder ein.

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