Herr Eichner, wie beurteilen Sie die Entscheidung?

Eckhard Eichner: Wenn ich ehrlich bin, habe ich erwartet, dass das Gericht den Paragraf 217 kippen wird. Dies ist aus meiner Sicht zum einen eine Konsequenz aus der Tatsache, dass wir in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten eine gesellschaftliche Werteverschiebung hin zu einer deutlichen Stärkung der Autonomie haben, die gemäß des heute getroffenen Urteils eben auch ein selbstbestimmtes Sterben beinhaltet.

Zum anderen schien es mir als juristischem Laien auch 2015 schon sehr schwierig zu sein, juristisch haltbar überhaupt einen Straftatbestand so zu konstruieren, dass die palliativmedizinische und -pflegerische Umsorgung nicht behindert wird und die bestehende Straffreiheit der Selbsttötung nicht berührt wird, trotzdem aber den sogenannten Sterbehilfevereinen das Geschäftsmodell - assistierter Suizid gegen Bezahlung - untersagt werden kann.

Braucht es überhaupt einen Straftatbestand?

Eichner: Aus einer rein palliativmedizinischen Perspektive heraus war ich damals und bin auch heute der Ansicht, dass wir diesbezüglich am besten gar keinen Straftatbestand im Strafgesetzbuch haben sollten.

Meine große Sorge ist, dass nun auf Basis dieses Urteils diejenigen, die nicht nur für den assistierten Suizid, sondern für die aktive Sterbehilfe - also Tötung auf Verlangen - in Deutschland plädieren, breitere gesellschaftliche Unterstützung erfahren werden.

Und dies, obwohl die aktive Sterbehilfe gar nicht verhandelt wurde.

Kann ein neues Gesetz für eindeutige Klarheit bei der Sterbehilfe sorgen?

Eichner: Ich kann nicht beurteilen, ob es überhaupt ein neues Urteil geben wird. Aus meiner Sicht kann auch ein neues Gesetz hier keine Eindeutigkeit herstellen. Genaugenommen müssten wir in Deutschland nun weiter und vor allem intensiver als bisher den gesellschaftlichen und politischen Diskurs führen, wie wir mit bedürftigen Menschen, wie wir mit Menschen in der letzten Lebensphase oder mit Menschen mit großem Leid umgehen wollen.

Reichen die bestehenden gesetzlichen Grundlagen nicht aus?

Eichner: Ganz grundsätzlich haben wir in Deutschland die notwendigen gesetzlichen Grundlagen, um nicht einseitig einem Ideal des selbstbestimmten - quasi frei entschiedenen - Suizids zu huldigen, das auch die Gefahr eines sozialverträglicheren - da früheren und damit billigeren - Ablebens in sich birgt.

Wir müssen uns auch der Tatsache bewusst sein, dass Menschen in Not oft nicht mehr so leben beziehungsweise leiden wollen und deswegen einen Ausweg aus diesem Leid dem Weiterleben vorziehen.

Deswegen hat für mich die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft mit schwer leidenden Menschen umgehen und was wir auch sozialrechtlich und im Sinne der Daseinsvorsorge gesellschaftlich finanziert zu geben bereit sind Vorrang vor der Frage, die in diesem Urteil beantwortet wurde.

Welche Folgen hat das heutige Urteil für Ärzte und Patienten?

Eichner: Hier kann ich nur persönlich als ambulant tätiger Palliativmediziner in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung antworten: Ich gehe davon aus, dass Patienten nun große Erwartungen an die Politik und fortfolgend uns Ärzte haben werden. Dabei erlebe ich alltäglich, dass viele Patienten den Unterschied zwischen einer assistierten Selbsttötung und einer Tötung auf Verlangen = aktive Sterbehilfe = Fremdtötung nicht kennen. Auch deswegen gehe ich davon aus, dass bei uns die Anfragen nach aktiver Sterbehilfe weiter zunehmen werden und der Druck auf uns als Ärzte steigen wird, entsprechende Handlungen auszuführen.

...und für Sie persönlich?

Eichner:

Für mich persönlich gilt ebenso wie für den Verein Augsburger Hospiz- und Palliativversorgung, dem ich vorstehe, dass wir - wie bisher auch - weder Unterstützung beim assistierten Suizid leisten noch aktive Sterbehilfe ausführen werden.

Denn zum Einen ist das Recht auf Gewissensfreiheit jedes Einzelnen ebenfalls grundgesetzlich in Deutschland verankert und gilt damit auch für mich als Person in meiner Rolle als Arzt. Und zum anderen endet die Autonomie des Einen immer an der Autonomie des Nächsten.