Wie er selbst zum reisenden Pfarrer wurde, dafür hat Torsten Heinrich gleich mehrere Erklärungen. Zum einen brauche er regelmäßige Veränderungen. So hatte er bisher nie mehr als zehn Jahre ein und dieselbe Stelle inne. Das Reisen liegt ihm also. Zum anderen ist da sein Bezug zur Artistik. »Ich war früher Geräteturner«, verrät er. Und schließlich wuchs er in einer mittelständischen Unternehmerfamilie auf, er kennt die Sorgen der Schaustellerbetriebe. Unterwegs sei er aber in erster Linie als Pfarrer: »Begleitung im Leben, Vergewisserung im Glauben und Bezeugung von Gottes Beistand und Segen.«

Seit zwei Jahren reist der Leiter der Zirkus- und Schaustellerseelsorge der Evangelischen Kirche in Deutschland von seinem Büro im hessischen Witzenhausen aus quer durch die Republik, redet mit Verkäufern in Losbuden, Inhabern von Autoscootern, Puppenspielern und Hochseilartisten. Zwölf Kollegen hat Heinrich, neben zwei Hauptamtlichen sehr viele, die die Seelsorge unterwegs ehrenamtlich tun, als Pfarrer im Ruhestand beispielsweise.

»Die Familie spielt eine ganz große Rolle«, nennt Heinrich den Aspekt, der ihn bisher am stärksten berührt hat. In aller Regel sind Schaustellerbetriebe Familienunternehmen. »Wenn einer auf einem Festplatz wegen Krankheit ausfällt, springt ein Familienmitglied ein, damit dieser Platz nicht verloren geht für das kommende Jahr.« Besonders stark ausgeprägt sei der Zusammenhalt bei Zirkusfamilien.

Überdurchschnittlich viele Kirchenmitglieder

Das bedeute nicht, dass es Außenstehende schwerhätten, mit einer eingeschworenen Gemeinschaft in Kontakt zu treten, erzählt Heinrich von seiner Anfangszeit als Zirkus- und Schaustellerseelsorger. »In aller Regel ist mir auf den Plätzen jemand begegnet, der sich gefreut hat, dass ich da bin, und mich dann mit den anderen bekannt gemacht hat.«

Dieses Entgegenkommen ihm gegenüber erklärt er sich damit, dass im Zirkus- und Schaustellergewerbe ein weitaus höherer Prozentsatz als im Gesellschaftsdurchschnitt zur Kirche gehört. Damit habe er anfangs nicht unbedingt gerechnet, erklärt Heinrich, der zuvor 20 Jahre Gemeindepfarrer und sechs Jahre Jugendpfarrer war. »Gott ist auf der Reise mit unterwegs«, dieses Wissen sei für die reisenden Schausteller und Zirkusleute die Konstanz in einem sonst im wahrsten Sinne des Wortes sehr bewegten Leben.

Aus diesem Grund sei das Thema Seelsorge in den 1950er-Jahren von den Zirkusleuten an die Landeskirchen herangetragen worden. »Wir brauchen jemand, den wir kennen, der umgekehrt unser Leben kennt«, wurde damals gefordert. Außerdem seien viele Volksfeste aus der kirchlichen Tradition, der Kirchweih, heraus entstanden. Gerade läuft ein Antrag auf Anerkennung der Volksfeste in Deutschland als immaterielles Kulturerbe der Unesco.

Viele Familienzirkusse kämpfen ums Überleben

Jetzt kümmert sich Heinrich auf den Reisen um Taufen, Beerdigungen und Konfirmationen, spricht Mut zu oder spendet einen Segen. Denn dass das eigene Geschäft die Lebensgrundlage ausmacht, spürt er immer wieder, wenn er ein neues Zelt oder Fahrgeschäft segnet.

Seine Schaustellergottesdienste enthalten weniger Liturgie, auch gibt es unter den Schaustellern nicht unbedingt einen großen Schatz an Kirchenliedern. »Singen können wir nicht«, höre er öfter unterwegs von »seiner« Gemeinde. Was nicht heiße, dass die Musik fehle. Schließlich hat Heinrich immer seine Gitarre dabei. »Dazu beten wir und hören Gottes Wort.« Es sei alles einfach ein Stück direkter.

Bei allem Glauben und Familienzusammenhalt warnt Heinrich vor einer Romantisierung des Zirkus- oder Schaustellerlebens. Zwar gebe es noch gut laufende Volksfeste, aber auch solche, die inzwischen Mühe hätten zu überleben. Hinzu kämen immer strengere Sicherheitsauflagen – auch in Folge von Terrorakten. »Ich habe den Eindruck, dass hier ein Großteil der Kosten auf die Schausteller abgewälzt wird.«

Die Alten werden geachtet

Viele der um die 400 Familienzirkusse kämpfen derzeit ums Überleben. Bis zu drei Familien schließen sich dafür zusammen. »Springt einer ab, weil das Einspielergebnis nicht alle ernähren kann, wird das Programm schlechter und noch weniger Besucher kommen – ein Teufelskreis«, sagt Heinrich. Nicht zu vergessen seien die kleinen Puppenbühnen.

»Sie alle wissen, dass das ein hartes Leben ist.« Deshalb würden sie beim Thema Bildung alles dafür unternehmen, dass ihre Kinder die Möglichkeit hätten, bei Bedarf einen anderen Beruf zu ergreifen. Trotzdem sei es so, dass viele Kinder dieses Leben auf Reisen schätzen. »Gerade der Zirkus hat eine unheimliche Bindungskraft.«

Das spüren auch ältere Familienmitglieder. »Sie haben ihr Leben lang geschuftet, sind hochgeachtet«, sagt Heinrich. Solange es geht, werde gearbeitet, sei es bei Fahrdiensten, der Versorgung der Zirkustiere oder beim Kochen für alle. »Ein festes Rentenalter kennt niemand.« Und in Altenheimen wohne kaum jemand.