Mehr als jeder vierte Deutsche (27 Prozent) hegt laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses antisemitische Gedanken. In der Umfrage, die dem Evangelischen Pressedienst epd vorliegt, äußerten 41 Prozent die Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust. Auch Aussagen wie Juden hätten zu viel Macht in der Wirtschaft oder trügen die Verantwortung für die meisten Kriege auf der Welt seien auf relativ große Zustimmung gestoßen. Für die repräsentative Erhebung wurden vor zweieinhalb Monaten, also vor dem Anschlag in Halle vom 9. Oktober, 1.300 Menschen befragt. Zuerst hatte die "Süddeutsche Zeitung" am 24. Oktober über die Umfrage berichtet.
Antisemitismus ist der Studie zufolge auch unter Gutverdienern in gesellschaftlichen Führungspositionen weit verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung der Antworten von 300 Befragten, die jährlich mindestens 100.000 Euro verdienen und über einen Universitätsabschluss verfügen.
Gut ein Viertel (28 Prozent) dieser als "Führungselite" definierten Gruppe vertrete die antisemitische Überzeugung, dass Juden im Geschäftsleben zu viel Macht hätten, heißt es in der Studie. Ebenfalls ein Viertel (26 Prozent) glaube, dass Juden in globalen Angelegenheiten zu viel Macht hätten.
Fast die Hälfte (48 Prozent) gab an, dass Juden Israel gegenüber loyaler seien als Deutschland.
Fast zwei Drittel (65 Prozent) der Deutschen gehen laut der Umfrage davon aus, dass nationalsozialistische Überzeugungen und Ideen mit dem Erfolg rechtsextremer Parteien zunehmen. Etwa 50 Prozent räumten ein, dass Juden einem Gewaltrisiko oder hasserfüllten Verbalangriffen ausgesetzt seien. Ein Viertel könne sich sogar vorstellen, dass sich in Deutschland etwas mit dem Holocaust Vergleichbares wiederholen könnte. Knapp ein Drittel (28 Prozent) finde, die deutsche Regierung tue nicht genug, um Jüdinnen und Juden zu schützen. Gleichzeitig wächst der Studie zufolge die Bereitschaft, gegen Antisemitismus vorzugehen: Ein Drittel aller Befragten würde nach eigenen Angaben dagegen auf die Straße gehen.
Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, sagte, Antisemitismus habe in Deutschland einen Krisenpunkt erreicht. Wenn sich mehr als ein Viertel der Gesellschaft mit Antisemitismus identifiziere, sei es an der Zeit für die restlichen drei Viertel, Demokratie und tolerante Gesellschaften zu verteidigen. Deutschland habe eine einmalige Verpflichtung, die Rückkehr von Intoleranz und Hass zu verhindern. "Es ist Zeit für die gesamte deutsche Gesellschaft, Stellung zu beziehen und den Antisemitismus direkt zu bekämpfen", erklärte Lauder. Der Jüdische Weltkongress ist die Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Organisationen aus mehr als 100 Ländern.