Als einziges Geldinstitut in Deutschland ist die Sparda-Bank München nach den Kriterien der Gemeinwohlökonomie bilanziert. Seit zehn Jahren treibt ihr Vorstandsvorsitzender Helmut Lind die Idee einer "ethischen Marktwirtschaft" voran.

Dessen Laufbahn ist für die Finanzbranche untypisch. Der 59-Jährige lädt seine Mitarbeitenden regelmäßig zu "Stärken-Workshops" ein, spricht auf Betriebsversammlungen von Menschenwürde, Gefühlen und Spiritualität und legt Wert auf eine "Unternehmenskultur der Achtsamkeit".

Gemeinwohlökonomie bei der Sparda-Bank in München

Nach zehn Jahren Gemeinwohlökonomie (GWÖ) und vier Gemeinwohl-Bilanzen sagt Helmut Lind: "Wir stehen am Sterbebett des Kapitalismus und an der Geburtsstätte einer gemeinwohlorientierten Ökonomie."

Nachhaltigkeit, soziales Engagement, Work-Life-Balance: Viele große Geldinstitute in Deutschland werben mit entsprechenden Programmen. Warum ist die Sparda-Bank München mit ihrer GWÖ-Bilanz besser?

Lind: Viele Unternehmen legen Nachhaltigkeitsberichte vor, die weder von Externen auditiert werden, noch mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Wandels verbunden sind. Die Sparda-Bank München hingegen hat sich bereits direkt nach der Finanzkrise 2008 bewusst für die Gemeinwohlökonomie entschieden und lässt die Gemeinwohl-Bilanz auch extern auditieren.

Die Auditoren führen dazu auch Interviews mit Mitarbeitern und Führungskräften und erstellen ein Testat nach einer umfassenden quantitativen und qualitativen Bewertung. Außerdem verbindet die GWÖ den angloamerikanischen Ansatz der Corporate Social Responsibility mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit, packt die gesellschaftliche Verantwortung obendrauf und ergänzt alles um ein demokratisches Prinzip. Erst wenn das zusammen kommt, wird gesellschaftlicher Wandel möglich.

Warum sollte sich ein Geldinstitut denn um gesellschaftlichen Wandel kümmern, um die Einführung einer "ethischen Marktwirtschaft", wie sie die GWÖ zum Ziel hat?

Lind: Das Wirtschaftssystem in Deutschland wird immer noch als soziale Marktwirtschaft bezeichnet. Für die Banken stimmt das nicht mehr - durch den EZB-Leitzins haben wir praktisch Planwirtschaft. Und die Wirtschaft stellt, wie es im Kapitalismus eben ist, allein das Kapital in den Mittelpunkt. Was auf der Strecke bleibt, ist die Würde des Menschen. Dann ist es aber auch keine soziale Marktwirtschaft mehr.

Im aktuellen Wirtschaftssystem steht die Moral unter dem Profit, die Gier ist wichtiger als die Tugend. Und was ist der Motor der Gier? Der innere Mangel. Das Trauma des Kapitalismus lautet: Es ist nie genug. Das Trauma des Individuums lautet: Ich bin nicht genug. Wer aber seinen Selbstwert durch Konsum stärken will, läuft ins Leere. Konsum ist reine Manipulation.

Ungewöhnliche Worte für einen Banker. Sie galten lange als karriereorientierter Optimierer. Was hat Ihre innere Wandlung verursacht?

Lind: Ich wusste schon mit 20, dass ich Vorstand werden will. Ich habe Leute nicht verstanden, die nicht genauso klare Ziele hatten. Dann habe ich den Vorstandsposten in München angetreten. Und in dem Moment, wo ich mein Ziel erreicht hatte, war alles vorbei. Die Vision wurde zu einer Illusion. Ich habe mich gefragt: War's das jetzt? Habe ich dafür meine Heimat verlassen, meine beiden Söhne vernachlässigt, meine Frau mit der Erziehung allein gelassen? Das war ein ganz schön tiefes Loch.

Was hat Ihnen geholfen?

Lind: Eine sinnzentrierte Therapie nach Viktor Frankl. Die Therapeutin fragte mich jedesmal: Was fühlen Sie? Aber ich hatte keine Ahnung von Gefühlen. Ich konnte nicht differenzieren zwischen Wut und Hass, Angst und Ohnmacht, Trauer und Liebe. So tickt auch unsere Gesellschaft.

Natürlich kann ich mit meinem Nachbarn über meine Rückenschmerzen sprechen. Aber wenn ich von meinem Hass oder Selbsthass spreche, der die Ursache der Rückenschmerzen ist, wird er schnell flüchten. Dabei sind Gefühle der Motor für Transformation. Jeder Leidensdruck ist zugleich ein Heilungsdruck. 

Was ist Ihr Glaubensfundament?

Lind: Ich habe evangelische Wurzeln und eine enge Verbindung zu Jesus Christus, aber ich mag die Trennung zwischen den Religionen nicht. Es ist mir wichtig, auch beim Thema Religion achtsam zu sein. Wir haben 750 Mitarbeiter, darunter gibt es auch Atheisten - ich will da keine Richtung vorgeben. Bei uns hat alles Platz. Spiritualität gehört aber zu mir, das kann ich nicht leugnen. Das ist mein Lieblingsthema, weil es die Essenz des Menschen ist.

Mit Ihrer Haltung sind Sie in der Finanzbranche ein Paradiesvogel. Welche Reaktionen bekommen Sie auf Ihr Konzept?

Lind: 2010, als wir mit GWÖ begonnen haben, hieß es, das sei Wahnsinn und weltfremd. Wir wurden als Geisterfahrer und Verräter bezeichnet. Uns schlugen Hassparolen aus der Branche entgegen. In diesen zehn Jahren habe ich gelernt: Das Beginnen wird nicht belohnt, nur das Durchhalten.

Denn natürlich kommen die Widerstände, die Angriffe, der Verrat. Das ganze menschliche Drama erlebst du live, und du bist selbst der Hauptdarsteller. Aber ich habe so viele Wunder erlebt! Es gab Signale, Dinge passierten, von irgendwoher kam eine wichtige Information - das war wie im Film. So entsteht übrigens Demut. Man merkt, dass man das gar nicht selbst machen kann.

Und wie sind die Reaktionen der Branche heute?

Lind: Heute sind wir Vorreiter, Vorbild, wir bekommen Wertschätzung - und manchmal spüren wir auch den Wunsch der anderen, sich zu versöhnen. Ich musste erst lernen, dass niemand sich von mir missionieren lassen will. Erst als ich das gelassen habe, hat sich etwas bewegt.

Was hat sich im Unternehmen verändert?

Lind: Als wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 2009 befragt haben, was sie mit unserer Bank verbinden, fielen die Stichworte: gebührenfreies Konto, freundlich und fair, gute Bank. 2018 haben wir die Befragung wiederholt. Sozial, ökologisch, gemeinwohlorientiert: Das waren die häufigsten Nennungen. Die Firmenkultur zu diesen Themen hat sich komplett gewandelt.

Sind Sie optimistisch, dass Deutschland mittelfristig ein gerechteres Wirtschaftssystem bekommt, in dem sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder schließt?

Lind: Wir stehen am Sterbebett des Kapitalismus und an der Geburtsstätte einer gemeinwohlorientierten Ökonomie, davon bin ich überzeugt. Wir befinden uns, nicht erst durch die Corona-Krise, in einem gigantischen gesellschaftlichen Transformationsprozess. Wenn in der GWÖ in den nächsten zehn Jahren so viel passiert, wie in den letzten zehn, dann bin ich sehr zuversichtlich.

Wie könnte das Wirtschaftssystem in 20 Jahren aussehen?

Lind: In Artikel 151 der Bayerischen Verfassung heißt es: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl." Das wäre mithilfe der GWÖ viel stärker unterfüttert, weil sie in ein aktuell amoralisches Wirtschaftssystem bewusst menschliche Werte implementiert und damit eine Art wirtschaftliche Permakultur schafft. Die derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen belohnen amoralisches Verhalten.

Es geht aber nicht mehr um Konkurrenz und Ausbeutung, sondern um Kooperation, Nachhaltigkeit und Solidarität. Mehr will die GWÖ gar nicht. Diese Werte sollen Platz haben im Wirtschaftssystem. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Wirtschaft ohne Ethik und Maß nicht funktioniert.