"Unser jetziges Wirtschaftssystem ist nicht zukunftsfähig."

Derzeit ist viel die Rede von grünem Wachstum. Halten Sie das für umsetzbar?

Claudia Kemfert: Umsetzbar ist es vielleicht, die Frage ist eher, ob es so zielführend ist. Das Problem ist doch, dass unser jetziges Wirtschaftssystem nicht zukunftsfähig ist. Wir brächten drei weitere Planeten in Reserve, um das jetzige Wirtschaftssystem in der Form aufrechterhalten zu können. Wir haben aber keinen Planeten B, sondern diese eine Erde, die wir aktuell zerstören durch einen ungebremsten Klimawandel und Umweltverschmutzung.

Ein grünes Wachstum ist zwar besser als das jetzige, kann aber grundsätzliche Probleme auch nicht lösen. Ein ungebremstes Wirtschaftswachstum ist so in der jetzigen Form nicht zukunftsfähig, weil es zu viele Bereiche gibt, die irreversible Schäden nach sich ziehen. Dazu gehören beispielsweise ein Überkonsum, ein Finanzsystem, das noch immer mehr Ursache als Lösung des Problems ist sowie die auf fossile Energien und Kapital basierenden Wirtschaftsprozesse. Dadurch entstehen in gewisser Weise Krebsgeschwüre, die nicht einfach mit einer Therapie des grünen Wachsens geheilt werden können.

Ist Wachstum an sich in einer Welt mit endlichen Ressourcen grundsätzlich problematisch?

Die Frage ist immer, was wächst, was wachsen muss und was nicht. Es gibt wichtige, gute Wachstumsformen, die unbedingt weiterwachsen müssen, wie beispielsweise Vorsorgeeinrichtungen, Gesundheit, Bildung oder die Sicherstellung von sauberem Wasser und Luft, also der Umweltschutz. In vielen Bereichen benötigen wir allerdings Schrumpfungen von schlechtem Wachstum aufgrund der begrenzten Ressourcen innerhalb der planetaren Grenzen. Schrumpfen muss beispielsweise der Überkonsum.

Ein anderer ganz zentraler Bereich ist Suffizienz im Energiesektor, dort sprechen wir aber eher vom absoluten Energiesparen. Mit der Vollversorgung aus erneuerbaren Energien kann der Primärenergieverbrauch deutlich sinken, wenn die Energieverschwendung endlich aufhört. Wenn der Ökostrom direkt eingesetzt wird, beispielsweise in der Wärmepumpe oder in der Elektromobilität, werden Umwandlungsverluste vermieden, die beim herkömmlichen Verbrennungsmotor oder in den auf fossilen Energien basierenden Heizsystemen auftreten. So können sowohl im Verkehrs- als auch im Gebäudesektor enorme Energieeinspareffekte und somit Suffizienz erreicht werden.

Im Gebäudebereich können mit einer energetischen Sanierung samt dem Einsatz einer Wärmepumpe der Energieverbrauch deutlich gesenkt werden. Suffizienz im Verkehrssektor ist ebenso zentral: wenn der Schienenverkehr und der ÖPNV gestärkt werden und so weniger Fahrzeuge, dafür kleine, leichte Fahrzeuge elektrisch unterwegs sind, sinkt der Energie- und Materialbedarf.

"Das Gute muss wachsen, das Schlechte schrumpfen."

Gibt es Alternativen zu einer Wirtschaft, die ewig wachsen muss?

Ja, die gibt es durchaus. Ein rein grünes "Weiter so"-Wachstum kann zentrale Probleme nicht lösen. Aber ein komplettes Schrumpfen aller Bereiche, wie degrowth-Anhänger es postulieren, zieht ebenso Probleme nach sich, da wichtige Wachstumsbereiche, die wachsen müssen, nicht wachsen können, wie beispielsweise Vorsorgeeinrichtungen, Gesundheit oder Bildung. Ich halte eine Lösung in der Mitte eher für zielführend, also eine Art vorsorgeorientierte Postwachstumsökonomie, die viele Vorteile hat. Sie ist eine Art Gemeinwohlökonomie. Das Gute muss wachsen, das Schlechte schrumpfen.

Was halten Sie von der sogenannten Kreislaufwirtschaft? Ist diese realistisch?

Ich halte sehr viel von der Kreislaufwirtschaft, da dadurch die Ressourcen geschont werden und so weniger Klima- und Umweltschäden auftreten. Wir bräuchten eine Kreislaufwirtschaft, die neben der Vermeidung von Ressourcen die effizienteste Nutzung im Kreislaufsystem berücksichtigt. Es geht somit um eine Vermeidung der Nutzung durch die schon angesprochene Suffizienz. Aber auch um die Wiederverwendung durch vollständige Recycling-Quoten sowie um die energetische Verwertung von Abfällen. So werden Stoffkreisläufe geschlossen, Rohstoffe effektiv genutzt und Ressourcen geschont.

"Die Recycling-Quoten müssten viel größer sein."

Und wie kämen wir dahin?

Wir reden schon eine gefühlte Ewigkeit über derartige Konzepte, wissen, wie es geht und könnten es konsequent umsetzen. Es beginnt mit der hier schon mehrfach angesprochenen Vermeidung von Verschwendung bzw. der Suffizienz ganz zentraler Bereiche. Die Stoffkreisläufe werden zwar stärker, aber leider nicht vollständig geschlossen. Die Recycling-Quoten müssten viel größer sein. All das sollte schnellstmöglich geändert werden.

Genügt das, um nachhaltig wirtschaften zu können?

Die Kreislaufwirtschaft allein reicht nicht aus, sie ist aber eine wichtige Komponente in einem zukunftsfähigen Wirtschaftssystem. Es muss integriert werden in ein auf Suffizienz konzentrierendes vorsorgeorientiertes Postwachstumsökonomie-System. So kann einerseits dafür Sorge getragen werden, dass schlechtes Wachstum aufhört und Suffizienz in den Vordergrund tritt. Andererseits sorgt die Kreislaufwirtschaft für Effizienz und Konsistenz, die sowohl eine nachhaltigere Nutzung von Materialien und Energie, also die Produktivität von Ressourcen sicherstellt als auch naturverträglichere Technologien im Einsatz sind, welche die Stoffe und die Leistungen der Ökosysteme nutzen, ohne sie zu zerstören.

"Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt."

Was braucht es, um das Versprechen ‚Wohlstand für alle‘ weltweit umzusetzen?

Wohlstand entsteht durch eine Umwelt, die nicht zerstört ist. Ein Klima, welches intakt ist und nicht durch Katastrophen zerstört wird. Durch einen sozialen Frieden in der Gesellschaft. Durch eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien, die die heimische Versorgungssicherheit sicherstellt, und zugleich Resilienz und Frieden schafft, weil Kriege um fossile Energien vermieden werden.

Wohlstand entsteht durch eine Gemeinwohlökonomie, die ein Auskommen für alle, Gesundheit, Vorsorge und Bildung ermöglicht, sowie einen Zugang für alle zu nachhaltiger Mobilität. Und so Freiheit und Frieden, und zugleich die Demokratie durch echte Teilhabe stärkt. Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, welches wir weltweit haben. Sie schafft mehr Wohlstand für alle.

Schockwellen

Claudia Kemfert

Die Energiekrise erschüttert die globale Wirtschaft. Gas und Öl werden als geopolitische Waffen eingesetzt. Und plötzlich sind Kohle, Fracking und Atomkraft wieder auf der Tagesordnung. Doch wer zahlt den Preis? Haben wir überhaupt noch eine Chance, uns aus den Abhängigkeiten zu befreien? Energieökonomin Claudia Kemfert gibt Antworten. Und sie benennt die Verantwortlichen für die verfahrene Situation. Ein kleines Zeitfenster bleibt, durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und friedliches Zusammenleben zu stützen.

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