Alles hier ist gedämpft und entschleunigt. Der Lärm der Bahnhofshalle zur Ferienzeit, das hektische Gewusel der Großstadt: Entronnen ist all dem, wer in der Münchner Bahnhofsmission auf einer Holzbank sitzt. Eine ältere Dame mit Löchern im Rock lächelt vor sich hin. Ein abgezehrter Mittfünfziger trinkt eine Tasse Tee nach der anderen. Ein dunkelhäutiger junger Mann verhandelt leise mit dem diensthabenden Mitarbeiter. Es ist ein Kommen und Gehen, die Hauptreisezeit macht sich bemerkbar - und doch gelingt es der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof, einen geschützten Raum für die Notleidenden zu bewahren. Eine Aufgabe, die gerade in München immer wichtiger wird.

Dabei seien die vielen Sommerreisenden nicht die größte Herausforderung, sagen Barbara Thoma und Bettina Spahn, die beiden Leiterinnen. Thoma leitet die Evangelische und Spahn die Katholische Bahnhofsmission, die hier an Gleis 11, gleich hinter der Filiale einer großen Kaffeekette, unter einem Dach zusammenarbeiten. Im Juli und August kämen zwar mehr Reisende mit Unterstützungsbedarf, die eine Umstiegs- oder Reisehilfe in Anspruch nehmen wollten, sagt Thoma.

Jeder findet hier Hilfe, rund um die Uhr, jeden Tag im Jahr.

Allerdings hat der Vorfall am Frankfurter Hauptbahnhof, als am 29. Juli ein Mann einen Jungen vor einen ICE stieß und dabei tötete, auch hier Spuren hinterlassen: Einige Augenzeugen aus Frankfurt, die unter Schock standen, habe die Bahnhofsmission betreut, berichtet Thoma. "Eine solche Tat zeigt auch auf, wie wichtig ein niedrigschwelliges psychiatrisches Beratungsangebot ist", sagt Spahn. "Vielleicht hätte das in Frankfurt geholfen", sagt Spahn. "Hätte man vorher festgestellt, dass der Mann auffällig ist, und ein entsprechendes Angebot vorhalten können, hätte es vielleicht keine Gefährdung und diese Katastrophe gegeben." Stattdessen riefen Politiker nach mehr Grenzkontrollen.

Spahn ist seit mehr als 20 Jahren als Hauptamtliche dabei. Ob man in dem Job manchmal ärgerlich über die Politik werde? "Oh doch", sagt sie leise. "Neue Entwicklungen werden als erstes hier auffällig", erklärt Thoma. Flüchtlingskrise, EU-Osterweiterung: Die Bahnhofsmission sei wie ein Seismograph, der neue Schwingungen wahrnimmt, bevor sie in Politik und Gesellschaft ankommen.

Lange bevor im Sommer 2015 Hunderttausende Geflüchtete eintrafen, war für das Team der Bahnhofsmission wahrnehmbar, dass etwas im Gange ist.

Darum wirkt Spahn glaubwürdig, wenn sie sagt: "Die Armut ist in München angekommen." Denn das, nicht die Reisezeit, sei die größte Herausforderung. Rentner suchten hier ebenso Hilfe wie junge Leute. Migranten machten seit einigen Jahren nur etwa die Hälfte der Menschen aus. Das liege auch daran, dass sich mehrere neue Angebote etabliert hätten, etwa die Beratungsstelle "Schiller 25" für Wohnungslose insbesondere aus Rumänien und Bulgarien.

Durchschnittlich 300 Menschen suchen pro Tag die Bahnhofsmission auf, davon einige mehrmals. Im vergangenen Jahr wurden im Schnitt täglich 77 Beratungen durchgeführt. Es gibt Getränke und Brotzeit, eine Notversorgung mit Kleidung, vor allem aber Auskünfte jeder Art und professionelle Sozialberatung. Die Brotspenden der Hofpfisterei einräumen, Nachtdienste leisten, Wäsche waschen, regelmäßig durchwischen: Die Einrichtung leistet das mit 14 Haupt- und 140 Ehrenamtlichen, sieben geringfügig Beschäftigten sowie Praktikanten. Finanziert wird sie durch Mittel der Landeshauptstadt, der bayerischen Landeskirche, der Erzdiözese München und Freising sowie der beiden Träger: dem katholischen Verband IN VIA und dem Evangelischen Hilfswerk.

"Im Gespräch erfährt man viel", sagt Spahn. Von der Rente, die nicht reicht. Von Überschuldung, die junge Familien dazu bringt, hier um Babywindeln zu bitten. Von Arbeitsverhältnissen am Rande der Legalität, in denen Migranten auf Baustellen von Luxuswohnungen schufteten. Von psychischen Erkrankungen. Von Wohnungslosigkeit. Häufig sei eine Trennung die Ursache dafür, dass Menschen zusammenbrechen.

"Bei vielen ist das Leben auf Kante genäht", sagt Spahn.

Außerdem sei "die Luft da draußen schon dünn geworden". Gerade in München sei die Gesellschaft sehr leistungsorientiert: "Da muss man schon seine Spikes ausfahren", sagt sie. Das Funktionieren-Müssen hielten viele Menschen nicht durch. Viele bräuchten ein anderes Tempo.

Auch für die Beraterinnen und Berater sei die Arbeit belastend. Im Nebenzimmer will eine Hauptamtliche gerade eine Beratung beenden, doch der Klient verabschiedet sich nur ungern - offenbar hat er irgendwo eine diskriminierende Erfahrung gemacht, spricht vom "rassistischen Land Deutschland". Der Security-Mitarbeiter in der Ecke beobachtet alles. Als Erfolg wertet es Thoma etwa, dass eine Frau, die sie tagelang begleitet haben, nun einen Platz in einer Unterkunft angenommen - und sich "zurück ins System" begeben hat.

Nachts wird der Aufenthaltsraum zu einem Schutzraum für Mädchen und Frauen. Die Bahnhofsmission deckt auch die Schließzeiten der Ämter ab und streckt im Notfall Leistungen wie Arbeitslosengeld II vor. Außerdem wickelt sie die Rückführungen innerhalb Deutschlands und der Europäischen Union ab.

Insgesamt gibt es in Bayern 13 Bahnhofsmissionen, die meisten sind ökumenisch getragen. Sie fühlen sich der Botschaft des Evangeliums und der Nächstenliebe verpflichtet, heißt es auf deren gemeinsamer Internetseite: "Sie verstehen sich als gelebte Kirche am Bahnhof." Die Nachfrage steigt überall: "Immer mehr Menschen in Not suchen Unterstützung" in den Bahnhofsmissionen.

Jährlich würden hier mehr als 250.000 Kontakte mit Hilfesuchenden gezählt - "Tendenz steigend".

Die Gründung der Münchner Bahnhofsmission reicht ins Jahr 1897 zurück. Von Anfang an stand die Bahnhofsmission allen Menschen offen. Zunächst ging es darum, junge Frauen, die neu in der Stadt waren, vor Ausbeutung und Prostitution zu bewahren. Heute ist - über das konkrete Angebot hinaus - die Hauptaufgabe, "den Menschen einen Raum zu bieten, um auf Augenhöhe mit ihnen ihre Möglichkeiten anzuschauen", sagt Spahn. Zwar sei München eine sehr soziale Stadt mit vielen unterstützenden Einrichtungen. Doch die Stadtgesellschaft erlebe gerade einen "Riesenumbruch hin zur Metropole", und da gehöre Armut leider mit dazu. Aber, meint Spahn: "Bei allem Leistungsdruck muss es doch darum gehen, anständig zu bleiben."