Die 78-jährige Frau kam nach einem schweren Sturz in die Notaufnahme der Berliner Charité. Ärztinnen und Ärzte versorgten Nasenbeinbruch und Prellungen, konnten für den Sturz aber keine Ursache finden. Nach fünf Tagen bat ihre Tochter um Rat bei Ute Seeland, Gendermedizinerin und Fachärztin für Innere Medizin: Die Mutter leide unter Angstzuständen, einer unerklärlichen Müdigkeit. Seeland reduzierte die Dosis der Blutdruck senkenden Medikamente und stellte die Patientin auf ein anderes Herzpräparat um - die Frau konnte schnell zurück nach Hause und ist seitdem nicht mehr gestürzt.

Frauen und Männer bekommen dieselbe Dosis

"Auffällig ist, dass gerade Frauen nach einem Sturz oft nicht sagen können, warum sie gefallen sind. Es liegt aber häufig an einer zu starken Senkung des Blutdrucks oder der Herzfrequenz", erklärt Seeland, die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin ist. Denn Ärzte verschrieben den Frauen häufig dieselben Medikamente wie Männern, in derselben Dosierung.

"In der Regel werden die Medikamente, die in der Herz-Kreislaufmedizin eingesetzt werden, immer noch ohne Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden entwickelt, getestet und auf den Markt gebracht",

sagt Seeland. Die geschlechtsspezifische Medizin, die diese Unterschiede in den Blick nimmt, gewinnt an Bedeutung.

Gendermedizin gewinnt an Bedeutung

Vera Regitz-Zagrosek ist eine der Pionierinnen. "Gendermedizin sagt, dass Männer und Frauen in der Medizin nicht gleich sind und dass diese Unterschiede berücksichtigt werden müssen, um die Menschen gut zu behandeln", erklärt die Kardiologin. Sie gründete 2003 an der Berliner Charité das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, das bisher einzige in Deutschland.

Zuerst fiel Ärzten und Wissenschaftlerinnen bei Herzinfarkten auf, dass sich die Symptome unterscheiden: Männer klagen oft über typischen Brustschmerz, Frauen eher über eine diffuse Übelkeit oder Rückenschmerzen. Die Folge: Herzinfarkte bleiben bei Frauen vielfach unerkannt, sie sterben häufiger daran. Patientinnen würden weniger sorgfältig behandelt, und auch die Prävention vor Herzinfarkten sei schlechter, kritisiert Regitz-Zagrosek.

Männer machten Medizin – und diskriminierten Frauen

Jahrhundertelang machten Männer Medizin. Der britisch-amerikanische Bestsellerautor Bill Bryson schreibt in seiner "Kurzen Geschichte des menschlichen Körpers", dass die Menschheit die meiste Zeit "erschreckend wenig über Frauen und ihren Aufbau" wusste. Alle Untersuchungen an der Frau unterhalb des Halses nahm der Arzt in der Regel durch "blindes Tasten unter der Bettwäsche" vor, "während er starr zur Decke blickte". Die Ärztin Ute Seeland formuliert es so:

"Es war die ganze Zeit eine Diskriminierung der Frau."

Heute sind zwar zwei Drittel der Medizinstudierenden in Deutschland weiblich. Doch unter den Dekanen der 40 medizinischen Fakultäten an Universitäten sei nur eine einzige Frau, kritisiert Regitz-Zagrosek.

Frauen auch in Studien unterrepräsentiert

Frauen sind auch in klinischen Forschungsstudien unterrepräsentiert: Seit dem Contergan-Skandal fürchten Forschende Nebenwirkungen, falls die Frau schwanger wird. "Aber was habe ich von einer Forschung, die die Geschlechtsunterschiede nicht berücksichtigt?", fragt Seeland.

"Ich kann die Ergebnisse nicht auf die gesamte Bevölkerung anwenden, weil sie auf 50 Prozent gar nicht passen."

Die Medizinerin fordert, schon in der Grundlagenforschung die Frage nach Geschlechterunterschieden einzubeziehen. Bei der Digitalisierung der Medizin müssten bereits die Datensätze, die in die Apps fließen, "auf allen Geschlechtern" beruhen. "Das bedeutet eine Erneuerung der Forschung."

Frauen haben weniger Muskeln, aber einen höheren Körperfettanteil. Ihre Nieren bauen Medikamente langsamer ab. Der monatliche Zyklus verursacht Hormonschwankungen. Einige Frauen verhüten, andere nicht, oder sie werden schwanger.

Der weibliche Körper altert anders als der männliche.

Ärztin Seeland interessiert sich besonders für die Perimenopause, die Phase rund um das Ende der Gebärfähigkeit. Da mache der weibliche Körper praktisch "eine Rolle rückwärts" zurück zur Pubertät, mit Veränderungen, die bis in die Rezeptoren hineinreichten. Diese Phase sei Ausgangspunkt für viele Krankheiten - aber sie sei weitgehend unerforscht.

Corona macht Gendermedizin salonfähig

Auch männliches und weibliches Immunsystem arbeiten unterschiedlich. "Mit der Schwangerschaft muss der Körper zur Hälfte fremdes Genom tolerieren", erklärt die Gießener Psychoneuroimmunologin Eva Peters. Darauf sei das Immunsystem eingestellt, indem es auf Erfahrung setze, also auf die "erlernte Immunität". Bei Männern hingegen sei die angeborene Immunität stärker. Die Kehrseite dieser Unterschiede zeige sich bei vielen Krankheiten: Frauen leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen, bei Männern verläuft eine Influenza schwerer - der viel belächelte "Männerschnupfen".

"Sehr viele Krankheiten haben eine Beteiligung des Immunsystems."

Als das Coronavirus sich ausbreitete und die Krankenhäuser sich füllten, fiel plötzlich auf: Mehr Männer erkranken schwer, und sie sterben häufiger. Noch sind die Ursachen nicht vollständig erforscht, aber das Immunsystem dürfte eine Rolle spielen, ist sich Immunologin Peters sicher. Bei Covid-19 gebe es "definitiv einen geschlechtsspezifischen Aspekt", betont auch die Bielefelder Gendermedizinerin Sabine Oertelt-Prigione.

Die Corona-Pandemie habe "die Wahrnehmung gedreht", glaubt Regitz-Zagrosek: "Gendermedizin ist salonfähig geworden." Das ist gut, denn von einer geschlechtersensiblen Medizin profitieren beide - oder vielmehr alle - Geschlechter. Für die Medizin bedeutet es eine Riesenchance. Moderne Forschung, sagt Eva Peters, heiße, "sich alles anzugucken" - und von veralteten Vorstellungen wegzukommen.