Dieser Satz versetzte sie in Rage. Was nahm sich ihr Sohn eigentlich heraus? "Von dir lasse ich mir gar nichts sagen, Mutter, du säufst", hatte er gerade eben geschrien. Dann war er weggelaufen. Zu jener Zeit hatte sich Bärbl Puls noch nicht eingestanden, wie tief sie in ihre Sucht verstrickt war. Und sie hatte den Gedanken verdrängt, was sie ihren beiden Söhnen durch ihre Trinkerei antat. "Ich habe ihnen das, was sie dringend gebraucht hätten, nicht geben können", sagt sie heute, nach mehr als 16-jähriger Abstinenz.

Eltern als Alkoholiker oder Drogensüchtige

Desinteresse an dem, was die Kinder den Tag über erlebt haben, ständige Querelen, unerklärliche Reaktionen wegen Rauschzuständen: Kinder suchtkranker Eltern leiden immens unter der oft chaotischen Situation zu Hause.

Bis zu drei Millionen Jungen und Mädchen sollen in Deutschland betroffen sein.

Dass diese Kinder dringend Unterstützung benötigen, darauf macht alljährlich die "Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien" aufmerksam, und zwar vom 9. bis 15. Februar 2020. Die Organisatoren fordern in diesem Jahr eine verpflichtende Finanzierung spezialisierter Hilfsangebote für betroffene Kinder.

Puls hatte am 31. Dezember 2003 einen Schlussstrich unter ihre Sucht gezogen. Seitdem hat sie keinen Tropfen mehr angerührt. Sie dachte seither viel darüber nach, warum sie süchtig wurde. Und was die Sucht bei ihr, aber auch in ihrem Umfeld angerichtet hatte. Gerade ihr älterer Sohn, weiß sie heute, litt schrecklich darunter, dass seine Mutter trank. Meist abends. Manchmal auch tagsüber. "Er sagte mir später, dass er sich deshalb nie getraut hatte, Freunde mitzubringen", sagt die heute 61-Jährige. Auch hatte er schreckliche Angst, dass ihr durchs Trinken etwas passieren könnte. Mit diesen Ängsten fühlte er sich alleine.

Kinder aus suchtbelasteten Familien benötigen frühzeitige Hilfestellungen

Auch Bärbl Puls propagiert heute frühe professionelle Hilfen für Kinder, deren Eltern süchtig sind. Viel Leid, ist sie überzeugt, hätte in ihrem Fall verhindert werden können, hätte ihr Sohn Unterstützung erhalten. Als er volljährig wurde, brach er mit seiner Mutter: "Wir hatten zehn Jahre keinen Kontakt." Darunter litt Puls sehr. Selbst als sie trocken wurde, kam keine Verbindung zustande. Erst 2011, als er in einer existenziell bedrohlichen Situation war, rang sich der Sohn durch, wieder Kontakt aufzunehmen. Seitdem haben die beiden viel geredet: "Wir sind immer noch dabei, aufzuarbeiten, was damals alles geschehen ist."

Ob Mama gerade einen guten oder einen schlechten Tag hat - diese Frage ist für Kinder aus Suchtfamilien eine emotionale Achterbahnfahrt und extrem belastend. "Die Kinder bräuchten häufiger professionelle Unterstützung", sagt auch Patricia Fischer-Martin vom Würzburger Kinderschutzbund. Eltern, die viel Alkohol trinken, von Medikamenten oder illegalen Drogen abhängig sind, könnten sich nicht angemessen um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern. "Erfahren diese Kinder aber nicht, dass ihre Bedürfnisse richtig und wichtig sind, tendieren sie dazu, ein schwaches Selbstbild zu entwickeln", sagt die Sozialpädagogin.

Kinder aus Suchtfamilien schweben außerdem in der Gefahr, Outsider in ihrer Klasse zu werden.

Das beschreibt Werner O. aus Mittelfranken, der mit trinkender Mutter und Stiefvater aufwuchs. "Ich wollte gerne in der Schule dazugehören, auf der anderen Seite sollte mir aber nie jemand so nahekommen, dass er gemerkt hätte, aus welcher Familie ich stamme", sagt der heute 68-Jährige. Über seine Probleme zu reden, habe er damals nicht gewagt. "Vielleicht hätte es mir geholfen, wenn mich ein Lehrer oder Geistlicher angesprochen hätten", sinniert der Rentner: "Aber wahrscheinlich hätte ich alles abgestritten."

In Suchtfamilien ticken die Uhren anders. Immer wieder, sagt Werner O., sei es in seiner Familie zu "Auswüchsen" gekommen. Dann habe er besonders schlecht geschlafen. Auch habe er sich nicht konzentrieren können. O. redet eigentlich nicht über das, was ihn bewegt. "Bis heute habe ich Angst vor Konflikten." Dass es ihm nicht noch schlechter geht, hat er einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken zu verdanken, die er besucht: "Durch die Gruppe fand ich langsam Wege, mich von den Problemen meiner Eltern zu lösen, sie aber nicht zu verstoßen, sondern für sie da zu sein, ohne mich kaputtzumachen."

Eltern haben für Kinder eine Vorbildfunktion

Kinder lernen an ihrem Beispiel, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten und nach welchen Werten sie sich richten sollen, sagt Konstantina Papadimitriou, die Geschäftsführerin des ambulanten Bereichs des Münchner Vereins "extra - Suchthilfe für Frauen und Angehörige". Sie können aber auch negative Verhaltensweisen übernehmen. Deshalb sei die Gefahr, dass das Kind eines süchtigen Elternteils selbst früh anfängt, viel zu trinken oder Drogen zu nehmen, sehr hoch. Viele suchtkranke Eltern schafften es nicht, ihre vielfältigen Ängste zu überwinden und Hilfe zu suchen.

Wie wichtig eine wirksame Hilfe für betroffene Kinder ist, weiß auch das Evangelische Beratungszentrum in Würzburg, das sich seit 1998 um Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern kümmert. Vor allem seelische Misshandlungen hätten oft ein Leben lang negative Auswirkungen, sagt Psychologe Andreas Schrappe. Er bestätigt, dass diese Kinder ein viel höheres Risiko haben, später im Leben selbst eine Suchtstörung auszubilden. Setzen Eltern Alkohol zur Stress- oder Konfliktbewältigung ein oder nähmen Crystal zur Leistungssteigerung, sind sie Schrappe zufolge fatale "Vorbilder", die ihre Kinder auf die falsche Spur bringen.

Bundesweite Aktion

9. bis 15. Februar 2020

Weitere Informationen zur bundesweiten Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien (Children oAlcoholics/ Children oAddicts = COA) erhalten Sie über folgenden Internet-Link: https://coa-aktionswoche.de/