Vor gut Woche trafen sich die 16 Mitglieder aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen zum ersten Mal, um sich über konkrete Themen zu verständigen. Aufgabe des Ethikrats ist es, Ministerpräsident und Staatsregierung "in den entscheidenden Zukunftsfragen unserer Gesellschaft" ethisch zu beraten.

Vorsitzende ist Susanne Breit-Keßler, frühere evangelische Regionalbischöfin für München und Oberbayern. Im Gespräch mit dem Sonntagsblatt erklärt sie, warum der Ethikrat mehr ist als ein Gremium zum Absegnen politischer Entscheidungen.

Ethikrat in Bayern

Frau Breit-Keßler, womit will sich der Bayerische Ethikrat künftig befassen?

Susanne Breit-Keßler: Verstärkt widmen wollen wir uns zunächst dem Thema vulnerable Gruppen, also der Frage, welche Menschen besonders unter der Corona-Zeit leiden. Denken wir etwa an pflegende Personen oder Menschen mit Einschränkungen. Ein zweites Thema werden Künstliche Intelligenz und Vertrauen sein. Der Ministerpräsident, der in unserer Sitzung zu Gast war, hat uns gebeten, den Zusammenhang von Digitalisierung und Bildung zu untersuchen: Wie leben wir in einer digitalen Welt, und was ist dann Bildung? Das muss mehr sein als die Kompetenzen, den Computer zu bedienen. Mich selbst interessiert in diesem Zusammenhang die Frage der "Herzensbildung".

Das Thema digitale Bildung wurde dem Land durch die Corona-Krise quasi aufgezwungen. Gibt es noch mehr davon?

Breit-Keßler: Auch mit Kunst und Kultur und ihrer Bedeutung wollen wir uns beschäftigen. Kultur ist Nahrung für die Seele. Denken wir etwa an Kleinkunst, wenn im Lockdown Balletttänzer im Hof und Sänger im Fenster Menschen erfreuen. Kultur ist kein Randphänomen. Niemand braucht dafür Vorbildung, jedes Kind versteht ein schönes Lied - Kultur macht die Seele stark. Ein weiteres Thema, das Corona virulent gemacht hat, ist das Generationenverhältnis: Was dürfen und müssen Alte und Junge gegenseitig voneinander erwarten? Wieviel darf man den Jungen aufbürden, wie bringen wir die Bedürfnisse ins Gleichgewicht?

Hat sich Ministerpräsident Markus Söder (CSU) noch mehr Themen gewünscht?

Breit-Keßler: Wir wollen uns auch mit dem Assistierten Suizid beschäftigen. Dazu bildet sich gerade eine Arbeitsgruppe. Außerdem denken wir daran, etwas zum Thema Wirtschaft und Nachhaltigkeit zu erarbeiten, vielleicht paradigmatisch am Beispiel Lieferkettengesetz. Generell war es eine sehr konstruktive Begegnung mit dem Ministerpräsidenten.

Man merkt: Politik nimmt die aktuellen Themen wahr.

Der Ministerpräsident wünscht sich "wake-up calls" für die Politik. Der Soziologe Armin Nassehi, der zu meinem stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden ist, spricht von einer "produktiven Störung" durch die Ethikräte.

Der Ethikrat will stören? Er will sich nicht beliebt machen und lediglich die Entscheidungen der Staatsregierung absegnen?

Breit-Keßler: Beliebtmachen ist prinzipiell sinnfrei. Und der Ministerpräsident kann es gut vertragen, wenn man kritisch ist, das habe ich häufig erlebt. Unser momentanes Ziel ist, in der Mai-Sitzung drei Papiere so weit wie möglich fertigzuhaben - zu den vulnerablen Gruppen, Kunst und Kultur und dem Assistierten Suizid. Das kann ich aber noch nicht versprechen.

Es arbeiten immer einige Mitglieder an einem Thema und verfassen Texte, die dann im Plenum diskutiert und abgestimmt werden. Als übergeordnetes Thema wollen wir untersuchen, wie ethische Beratung funktioniert, also: Wie laufen die Prozesse ab, was passiert beim Transfer in die Politik? Es geht um die praktische Relevanz ethischer Beratung durch Experten.

Wollen Sie verhindern, dass zu viel Ethik verloren geht bei der Übertragung auf politische Entscheidungen?

Breit-Keßler: Wenn Expertise einfach übertragen werden könnte, bräuchte es kein Expertengremium. Wir wollen die Bedingungen der Möglichkeit beschreiben, wie und ob von Ratschlägen auch etwas in Politik und Gesellschaft ankommen kann. Das hilft übrigens auch, Enttäuschungen zu vermeiden. Es ist wie im Privaten: Ich gebe jemandem eine gute Idee mit auf den Weg, und dann entscheidet er sich anders. Er modifiziert meine Ideen. Wir fragen danach, unter welchen Bedingungen wir denken und entscheiden. Das sorgt auch bei den Bürgern für Transparenz. Die Beschäftigung mit diesem Thema könnte wegweisend sein. Ich bin selbst gespannt.

Wie unabhängig ist der Ethikrat?

Breit-Keßler: Der Bayerische Ethikrat ist ein Beratungsgremium der Staatsregierung. Er kann seine Themen frei wählen und zugleich auf Bitten des Kabinetts reagieren, bestimmte Themen zu bearbeiten. Selbstverständlich sind die Mitglieder des Ethikrates in ihren Gedanken und Äußerungen unabhängig.

Gilt diese Äußerungsfreiheit auch für einzelne Mitglieder? Der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge ist kürzlich aus dem Ethikrat entlassen worden, nachdem er die Lockdown-Maßnahmen öffentlich heftig kritisiert hatte.

Breit-Keßler: Professor Lütge hat seine persönliche Meinung verquickt mit der Funktion als Mitglied des Ethikrats. Viele Leute glaubten, diese persönliche Meinung würden die Position des Ethikrats wiedergeben. Es gab folglich viele Irritationen und Anfragen zu den partikularen Auffassungen von Professor Lütge. Seine Einlassungen waren weder formal vom Ethikrat autorisiert noch inhaltlich durch Stellungnahmen des Ethikrates begründet. Jeder von uns kann alles sagen - aber nicht als Mitglied des Ethikrats.

Woran können die Bürger erkennen, dass der Ethikrat nicht nur monolithische Positionen formuliert, sondern dass dort Diskurs stattfindet?

Breit-Keßler: Die Geschäftsordnung verpflichtet uns, auch Minderheitenvoten in Beschlüsse aufzunehmen, das heißt: Als Vorsitzende muss ich unsere Position und eventuelle ausformulierte Gegenpositionen in die Öffentlichkeit tragen. Es herrscht selbstverständlich Meinungsfreiheit. Jetzt braucht es allerdings erst einmal Ruhe und Nachdenklichkeit, damit wir unsere Texte verfassen können. Lieber länger an etwas arbeiten, als voreilig mit Papieren herauskommen.

Hektisches Twittern widerspricht diesem Ansatz. Prägt diese ruhige Langfristigkeit auch den Charakter des Ethikrats im Verhältnis zu den drei Corona-Gremien der Staatsregierung, denen Sie angehören, etwa dem Dreierrat Grundrechte?

Breit-Keßler: Der Ethikrat kümmert sich um langfristige Perspektivthemen und nicht um Tagespolitik. Dagegen geht es beim Dreierrat Grundrechte um ein juristisch-ethisches Monitoring der Corona-Entscheidungen der Staatsregierung - vorab und hinterher. Beispielsweise haben wir im ersten Lockdown gesagt: Dass ein allein lebender Mensch keine anderen treffen darf, das geht gar nicht - ebenso wenig, wie alte oder sterbende Menschen allein gelassen werden dürfen.

Vulnerable Gruppen brauchen mehr Testungen - das haben wir vor einem halben Jahr verlangt. Wir haben darauf hingewiesen, dass der Staat eine Bevorratung an Pandemieausrüstung für Jahrzehnte braucht. Ausländerbeiräte müssen an der Information über Maßnahmen beteiligt werden, Zeitungsläden offen bleiben - all diese Überlegungen gehen auch auf das Konto des Dreierrats.

Wofür kämpft er aktuell?

Breit-Keßler: Aktuell machen wir uns dafür stark, die Corona-App zu verbessern. Wir sagen: lieber den Datenschutz an dieser Stelle lockern, als andere Grundrechte noch länger einzuschränken.

Sie sitzen auch dem Runden Tisch Corona vor. Dort geht es immer ad hoc um mögliche Öffnungsszenarien. Außerdem sind Sie Mitglied der neuen bayerischen Impfkommission - was genau tun Sie da?

Breit-Keßler: Bei der Impfkommission melden sich Menschen, die früher geimpft werden möchten, als es die Impfverordnung vorsieht. Wir treffen Einzelfall- und Härtefall-Entscheidungen. Bislang sind etwa 300 Anträge eingegangen. Unser Ziel ist es, jedem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen Bescheid zu geben. Das bedeutet jetzt viel Arbeit, da gibt's kein Vertun - das sind alles Menschen, die Angst haben und sich einem anvertrauen. Einige haben Vorerkrankungen, die nicht gelistet sind, und gehören gegebenenfalls höher priorisiert. Wir schauen uns gemeinsam die medizinische und die Lebenssituation an, um sorgfältig entscheiden zu können.

Kommen Sie mit der vielen Gremienarbeit nicht manchmal durcheinander?

Breit-Keßler: Inhaltlich nicht, dafür unterscheiden sich die Aufgabengebiete zu sehr. Ich finde, in dieser Zeit muss jeder beitragen, was er kann. Ich hätte gerne weniger zu tun. Aber ich bin diesem Land für so vieles in meinem Leben dankbar. Nun ist die Zeit, etwas zurückzugeben.