Einer sucht, eine findet

Mein Freund ist ein schlechter Sucher, aber ein guter Verlierer. Jeden Tag meint er, etwas verloren zu haben. Streng genommen verlegt er Dinge nur, aber in dem Moment, in dem er sein Handy sucht, fühlt es sich für ihn an, als ob er es verloren hat. Er verlegt nicht nur sein Handy, auch seinen Schlüssel, die Haarbürste oder seine Kaffeetasse. Doch mein Freund hat Glück: Ich bin eine gute Sucherin und finde so gut wie alles wieder.

Wenn ich durch unsere Wohnung gehe, fallen mir allerlei Details auf, vor allem Dinge, die da eigentlich nicht an ihrem richtigen Platz sind: Die Kaffeetasse auf dem Badezimmerschrank oder das Handy auf der Mikrowelle. Und diese Bilder fallen mir wieder ein, wenn mein Freund verzweifelt fragt: Wo ist mein Handy? Und ich stelle die richtigen Fragen: Hast du schon im Rucksack geschaut, den du gestern dabei hattest? Ziemlich einfach eigentlich. Ich bin eine gute Sucherin, weil ich nichts für unmöglich halte. Ich schaue im Vorratsregal nach dem Handy - vielleicht hat er sich gerade etwas in unsere Einkaufszettel-App notiert? Im Wäschekorb nach dem Schlüssel - vielleicht hing er noch an der Hose? Im Schuhregal nach der Post - vielleicht hat er sie dort abgelegt, als er zur Tür rein kam.

Wir beide kommen damit gut zurecht, und es ist schon fast ein Sport für mich geworden, in möglichst kurzer Zeit den vermissten Gegenstand zu finden. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, mein Freund verlegt Dinge extra, um mir die Freude des Suchens und Findens zu machen.

Vom Wiederfinden und der Freude darüber erzählen zwei Geschichten in der Bibel. Jesus erzählt sie als Gleichnisse. Hören wir die erste Geschichte: Das Gleichnis vom verlorenen Schaf.

Alle Zolleinnehmer und andere Leute,die als Sünder galten, kamen zu Jesus, um ihm zuzuhören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich darüber. Sie sagten: "Mit solchen Menschen gibt er sich ab und isst sogar mit ihnen!" Da erzählte ihnen Jesus dieses Gleichnis: "Was meint ihr: Einer von euch hat hundert Schafe und verliert eines davon. Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe in der Wüste zurücklassen? Wird er nicht das verlorene Schaf suchen, bis er es findet? Wenn er es gefunden hat, freut er sich sehr. Er nimmt es auf seine Schultern und trägt es nach Hause. Dann ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ›Freut euch mit mir! Ich habe das Schaf wiedergefunden, das ich verloren hatte.‹ Das sage ich euch: Genauso freut sich Gott im Himmel über einen Sünder, der sein Leben ändert. Er freut sich mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, ihr Leben zu ändern."

Geschichte mit Widerhaken

Gefunden werden, das heißt: Jemand sucht nach mir. Und Gesucht werden heißt: Jemand vermisst mich. Ich fehle jemandem. Das ist Liebe. Und der Hirte aus der Geschichte liebt jedes seiner einhundert Schafe so sehr, dass er jedes Einzelne suchen wird, wenn eines verloren geht.

Was für ein schönes Bild: Der Hirte legt sich das verlorene Schaf auf die Schultern und trägt es zurück zur Herde. Ich stelle mir vor: Das verlorene Schaf ist stundenlang allein durch die Landschaft gestreift, hat geblökt und gehofft, dass seine Herde antwortet. Aber da blökt kein Schaf. Das verlorene Schaf hat Durst bekommen, aber es hat keinen Bach gefunden. Und es ist müde geworden. Wie schön muss es sein, als der Hirte auf einmal da ist, das Schaf an sich drückt und auf die Schultern legt. Die müden Beine können ausruhen. Das Schaf spürt: Ich komme wohlbehalten zurück zu den anderen. Die warten auf mich.

Die Geschichte wirkt auf den ersten Blick ganz alltäglich, wie mitten aus dem Leben, jedenfalls zur Zeit von Jesus, als viele Hirten unterwegs waren. Aber sie erzählt nichts von unserem menschlichen Leben, hier in dieser Welt. Sie erzählt etwas von Gott. Darum gibt es in dieser Geschichte einen Widerhaken, an dem ich hänge bleibe. Etwas passt nicht in dieser Geschichte, so wie die Kaffeetasse auf dem Badezimmerregal.

Was ist das für ein verrückter Hirte. Jeder vernünftige Hirte würde bei seiner Herde bleiben und auf die 99 restlichen Schafe aufpassen. Er würde sie vor dem Wolf beschützen und schauen, dass kein weiteres Schaf verloren geht.

Hier ist der Widerhaken in der Geschichte: Ein Hirte, der 99 Schafe zurücklässt, um ein einziges zu suchen, macht eine schlechte Kosten-Nutzen-Rechnung auf. 99 Schafe alleine zu lassen und Gefahren auszusetzen und vielleicht viel mehr oder alle zu verlieren, nur um ein fehlendes Schaf zu suchen. Ziemlich dumm. Oder riskant.

Aber das Gleichnis erzählt ja nicht von einem klugen Hirten und es ist auch keine Anleitung für Hirten im Falle eines Schafverlustes. Das Gleichnis erzählt von Gott:

Das sage ich euch: Genauso freut sich Gott im Himmel über einen Sünder, der sein Leben ändert. Er freut sich mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, ihr Leben zu ändern.

Gott macht sich auf die Suche und freut sich, wenn er findet. Er vermisst so viel. Gott vermisst ihn, der seinen besten Freund mit Liebeskummer versetzt, weil er seine Trainingseinheit lieber ins Fitnessstudio geht.

Gott sucht sie, die ihre Erlösung im strengen Diäthalten sucht.

Gott findet und freut sich über ihn, der in seiner Freizeit jetzt Vorlesepate ist.

Gott freut sich mit ihr, die sich nach der Scheidung wieder neu verliebt hat.

So viel Verlieren, so viel Finden!

Pfarrerin Stephanie Höhner über Suchen und Finden

Verloren sein, getrennt sein von der Normalität, von der Herde, die dem Schaf Sicherheit gibt, vom Alltag mit Büro-Kantine und Kolleg*innen, vom Picknick mit Freund*innen an der Isar, von den Eltern und Großeltern. Die Pandemie hat in mir das Gefühl von Verlorensein wieder wach gerufen. Auf einmal wurden Orte zur Gefahr, an denen ich mich bisher wohl gefühlt habe: das vietnamesische Restaurant gegenüber, der Musikclub. Menschen, die ich gerne umarme, konnten eine potentielle Gefahr sein. Ich habe mich verloren gefühlt, weil mir auf einmal Sicherheit fehlte.

"Lost"- verloren – Das ist zum Jugendwort des letzten Jahres gewählt worden. Auch wenn ich nicht mehr Jugendliche bin, finde ich mich darin wieder.

Lost – ahnungslos, unsicher sein. Lost – das ist vielleicht auch das "Gefühl des Jahres 2020", nicht nur für viele Jugendliche. Fünf große europäische Zeitungen haben zusammen eine Umfrage unter jungen Menschen in Italien, Deutschland und anderen Ländern gemacht und gefragt: Wie geht es euch jetzt? In der Süddeutschen Zeitung ist ein Teil der Antworten veröffentlicht worden[1]. Die "Generation Corona" erzählt, was sie alles verloren hat im letzten Jahr, worauf sie verzichten musste und wie sie die Zukunft sieht.

Antje erzählt:

"Ich vermisse die Leichtigkeit. Ich vermisse es auszugehen, unter Menschen zu sein, betrunken vorm Club einfach mal mit Fremden zu quatschen. Etwas Blödes zu machen und mit meinen Freunden danach drüber zu lachen. Wenn ich sonst mit meinem Leben unzufrieden war, habe ich etwas geändert. Jetzt habe ich diese Macht nicht. Besonders schlimm ist, dass wir für die Politik keine Rolle spielen. Man hat das Gefühl, dass wir nicht gehört und nicht ernst genommen werden. Da kommen manchmal richtig Wut und Verzweiflung hoch."

Lost – unsicher, hilflos fühlt sich Antje. Ihr Leben ist ihr aus der Hand genommen. Und sie fühlt sich übersehen. Da ist keiner, der nach ihr sucht.

Lukas kennt das Gefühl, allein gelassen zu sein.

"Während der Pandemie habe ich viel Zeit vor Bildschirmen verbracht. Ich habe eigentlich kein Problem damit, allein zu sein, aber so viel Einsamkeit schmerzt. Meine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner meine Familie helfen mir, aber immer öfter fühle ich eine innere Leere. Einfach nichts. Ich bin schwer enttäuscht darüber, wie konstant Entscheidungen erst zu spät und dann falsch getroffen werden. Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, beschreibt das sehr gut. Ich will einfach wieder Normalität. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie diese dann aussehen wird."

Ein Stück Normalität erlebe ich seit ein paar Wochen: Der erste Kaffee im Straßencafé hat so gut wie lange nicht mehr geschmeckt und das erste Abendessen mit einem Freund bei uns zu Hause dauerte gleich bis halb drei nachts. Ich würde am liebsten jeden zweiten Tag in den Biergarten gehen und jedes Wochenende andere Freunde besuchen, die ich seit über einem Jahr nicht mehr sehen konnte. Ich freue mich über alles, was wieder erlaubt ist und was ich die letzten Monate vermisst habe.

Aber nicht alles, was verloren gegangen ist, lässt sich nachholen.

Claire erzählt:

"Anfang des Jahres habe ich meinen 18. Geburtstag gefeiert. Ich hatte immer gedacht, dass ich dann endlich in einen Nachtclub gehen kann! Von wegen. Ich werde das nie mehr nachholen können – und die Zukunft macht mir Angst."

Ich finde es bitter, dass Claires Gefühl für die Zukunft "lost" ist. Verloren.

Verloren in der Angst vor der Zukunft. Verloren in der Trauer, etwas für immer im Leben verpasst zu haben. Ich frage mich, wo hier die Hirten und Hirtinnen sind, die nach ihr suchen. Die nach den Jugendlichen suchen, die jetzt lost sind. Oder ob sie alleine zurück finden müssen, in ein Leben, das wieder voller Träume und Hoffnung ist.

Was Antje in dieser Zeit hilft:

"Ich male mir oft aus, wie es sein wird, wenn das Leben wieder richtig losgeht: Wie bei einem riesigen Urlaub, auf den man sich schon viele Monate vorher freut. Nur noch besser. Allein jede Umarmung fühlt sich gerade schon ein bisschen an wie Sommer."

Ich fühle mich verloren

Vor elf Jahren habe ich plötzlich mein normales Leben verloren. Ich hatte einen schweren Fahrradunfall, musste im Krankenhaus notoperiert werden, weil ich eine lebensgefährliche Kopfverletzung hatte. Ich musste zwei Wochen im Krankenhaus und dann vier Wochen in einer Rehaklinik verbringen, damit ich wieder alleine im Alltag zurecht komme. Von einem auf den anderen Moment ist nichts mehr so wie es vorher war. Die ersten Tage kann ich nicht alleine aus dem Bett. In der Rehaklinik kann ich mir die einfachsten Wege nicht merken und muss immer von einem Pfleger zu den Behandlungsräumen gebracht werden.

Ich war am Leben, und dafür unendlich dankbar, aber ich hatte doch mein bisheriges Leben verloren.

Es hat weh getan, zu spüren: Ich bin dauernd auf Hilfe angewiesen. Meine Selbstständigkeit war auf einmal weg, meine geistigen Fähigkeiten stark eingeschränkt. Und besonders schlimm war für mich: ich habe meine langen Haare verloren, zumindest für eine Zeit. Ich habe lange Haare, seit ich denken kann.

Jeder Blick in den Spiegel hat mich daran erinnert, dass nichts mehr so ist wie vorher. Ich habe mich selbst nicht mehr erkannt, mit halb rasiertem Schädel. Ich habe dann alle Haare kurz schneiden lassen, aber das war nicht mehr ich. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich mich, bis ich meine langen Haare zurück hatte. Seitdem ist jeder Friseurbesuch ein Fest, wenn nur die Spitzen abgeschnitten werden.

Was ich in dieser Zeit verloren habe: ein Stück Leichtigkeit im Leben. Denn es ist mir bewusst: es kann jeden Moment zu Ende sein. Ich habe mich nicht wohlgefühlt in meinem Körper mit der komischen Frisur, und ich habe mich schwer getan, neue Kontakte zu knüpfen. Und da war immer die Angst, dass wieder etwas Schlimmes passieren könnte. Nichts fühlt sich mehr sicher an.

In dieser Zeit habe ich mich verloren gefühlt. Lost.

Das musikalische "Lost" meiner Jugend ist von Coldplay: Just because I'm losing, doesn't mean I'm lost, doesn't mean I'll stop, doesn't mean I will cross. (Nur weil ich verliere, heißt es nicht dass ich verloren bin, heißt es nicht dass ich aufhören werde, heißt es nicht dass es mir egal ist).

Ich habe das Lied oft zu Hause gehört, alleine in meinem Zimmer. Da hat es mich ein bisschen traurig gemacht. Aber bei der Semesterabschlussparty zwei Jahre nach dem Unfall höre ich die ersten Takte. Und da muss ich einfach tanzen. Ich fühle mich leicht, und genau am richtigen Ort. Ich tanze mit den anderen bis spät in die Nacht. Just because I'm losing, doesn't mean I'm lost. Ich bin wieder in meinem alten Leben zurück.

Jesus erzählt noch eine zweite Geschichte vom Wiederfinden. Doppelt hält besser.

"Oder wie ist es, wenn eine Frau zehn Silbermünzen hat und eine davon verliert? Wird sie da nicht eine Öllampe anzünden, das Haus fegen und in allen Ecken suchen –solange, bis sie das Geldstück findet? Und wenn sie es gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: ›Freut euch mit mir! Ich habe die Silbermünze wiedergefunden, die ich verloren hatte.‹ Das sage ich euch: Genauso freuen sich die Engel Gottes über einen Sünder, der sein Leben ändert."

Wieder bleibe ich hängen und spüre einen Widerhaken: Was für ein Aufwand! Für einen einzigen Silbergroschen lässt die Frau alles stehen und liegen lässt und sucht wie verrückt - und als sie ihn findet, da gibt sie gleich ein Fest! Völlig übertrieben. Aber so ist Gott. Sagt Jesus. Gott gibt niemanden verloren. Und freut sich.

Niemanden verloren geben

Niemanden verloren geben…- Das habe ich mal versprochen. Als ich Pfarrerin geworden bin, habe ich ein Versprechen abgegeben, wie ich meinen Beruf in der Kirche ausfüllen werde. Dieser eine Satz ist mir besonders wichtig geworden: Gib niemanden verloren! Ein hoher Anspruch. Und ein großes Versprechen: Ich werde suchen. Und jemand sucht nach mir. Aber ich weiß auch: Es gibt Menschen, die wir verlieren und nicht wieder finden, die sich nicht finden lassen. Jemanden für immer los zu lassen, das tut so weh. Zusehen, wenn ein Mensch sich verliert und sich nicht finden lässt, egal, wie sehr ich mich anstrenge, ihn zu suchen.

Was mich tröstet, hat mit dem Widerhaken zu tun. In den Gleichnissen und in meinem Glauben.

Die Gleichnisse erzählen etwas über Gott. Wo ich nicht mehr suchen kann, bleibt Gott dran! In seinem Reich, bei ihm im Himmel, wie es in den Geschichten heißt, sucht Gott weiter. Und wird das Verlorene finden. Das glaube ich fest. Bei ihm wird heil werden, was hier zerbrochen ist. Er wird so lange suchen und alles auf den Kopf stellen, bis er uns findet. Und dann wird Freude sein.

Mich tröstet das. Und ich hoffe das, wenn ich hier loslassen muss.

Aber bitte nicht erst später, irgendwann im Himmel.

Das Himmelreich ist mitten unter euch, sagt Jesus an einer anderen Stelle.

Niemanden verloren geben - das gehört hierher, auf diese Erde, in mein Leben.

Niemanden verloren geben - das hat mit Liebe zu tun. Und mit Interesse an den Menschen.

Dranbleiben - gegen jeden menschlichen Verstand. Den Widerhaken spüren. Gott bleibt bei dran. Aus Liebe.

Ich weiß, dass ich nie so suchen werde, wie Gott es tut. Das kann ich gar nicht. Aber wenn ich das lebe, was ich damals versprochen habe, "Gib niemanden verloren!", dann geschieht das jetzt und hier, dann geschieht - ein Stück Gottesreich.

Erinnern Sie sich noch an meinen Freund? (Er ist) ein schlechter Sucher, aber ein guter Verlierer. Ich kenne ihn nur so und auch das macht ihn so liebenswert für mich. Ich suche weiter für ihn nach Dingen, die er verzweifelt vermisst. Dranbleiben. Wenn ich es finde, machen wir allerdings nicht jedes mal ein Fest und laden die Nachbarn ein – unser Haus käme sonst aus dem Feiern nicht mehr heraus. Aber heute gibt es wenigstens Feiermusik. Für alles und alle, die gefunden werden!

 

[1]     Süddeutsche Zeitung Ausgabe Nr. 121, 29./30. Mai 2021, Buch Zwei, S.11-13.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.