Lederhose, Löwenbräu und FC Bayern: Juden haben den Freistaat mehr geprägt, als viele meinen. Denn auch wenn sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen, sind sie seit mehr als 1.000 Jahren Bestandteil der bayerischen Geschichte. Dennoch haben sie bis heute keinen leichten Stand.

Im Gespräch mit sontagsblatt.de schildert der Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, Michael Brenner, warum Juden in Bayern zwar keine Fremden, aber lange "die Anderen" waren. Der Sohn zweier Holocaust-Überlebenden schildert, wie Juden unter Verschwörungstheorien leiden mussten und weshalb jüdisches Lebens in Bayern mehr ist als die Schoah.

Herr Brenner, wie finden Sie es, wenn gefragt wird, ob Juden zu Bayern gehören?

Brenner: Das ist so als, ob wir fragen würden, ob Brillenträger oder Schwarzhaarige zu Bayern gehören. Juden kamen in das Gebiet des heutigen Bayerns bereits in den Zeiten, in denen auch die ersten Christen hier lebten.

Der frühere Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) nannte Juden einmal den "fünften Volksstamm Bayerns", sieht sie also neben Altbayern, Franken, Schwaben und Sudetendeutschen. Was halten Sie davon?

Brenner: Das war sicherlich gut gemeint und ist auch nicht ganz falsch. Nur dass die Juden schon länger als Franken, Schwaben oder Sudetendeutschen in Bayern leben. Zudem würde ich sie heute eher mit den anderen Religionsgemeinschaften als mit den Stämmen vergleichen.

Sie haben einmal gesagt, die Juden in Bayern waren zwar keine Fremden, aber sie waren "die Anderen"...

Brenner: Die Juden waren jahrhundertelang als einzige Nichtchristen die Anderen in einer christlich geprägten Gesellschaft. Deswegen waren sie aber noch keine Fremden. Ihre Vorfahren lebten ja oft schon länger als viele Christen in Bayern. Die ersten Juden kamen wohl mit den Römern ins Gebiet nicht nur um den Rhein, sondern auch um die Donau. Wir wissen dann aber wenig über jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Bayerns, bis etwa um das Jahr 1000. Aus dieser Zeit sind die ersten Dokumente dazu: So besitzen wir eine Quelle aus Stadtamhof im heutigen Regensburg aus dem Jahre 982.

Verschwörungstheorien boomen in Corona-Zeiten wieder. Auch die Juden in Bayern mussten schon vor 700 Jahren unter solchen Lügen und Gerüchten leiden - und verloren zum Teil ihr Leben. Was waren das für Vorwürfe?

Brenner: Es gab gegenüber diesen vermeintlich Anderen immer wieder die schrecklichsten Verschwörungstheorien. Angefangen von der Hostienschändung über die Ermordung von Christenkindern bis zur Vergiftung der Brunnen zur Pestzeit. Wenn man einmal eine kleine und relativ wehrlose Minderheit gefunden hat, gegen die sich alle möglichen irrationalen Vorurteile richten, kommen schnell weitere hinzu.

Viele Anschuldigungen rühren auch von der Distanzierung des Christentums gegenüber der jüdischen Mutterreligion her. Dazu gehört der Vorwurf des Gottesmordes. Während der Reformation hat Martin Luther darauf gehofft, die Juden zu seiner Version des Christentums zu bekehren. Als dies nicht gelang, hat er sich in den heftigsten Formen gegen diese "Verstockten" gewandt.

War ganz Bayern seit Ende des Mittelalters für Juden verbotenes Territorium? Und wie ging es in der Frühen Neuzeit weiter?

Brenner: Das von den Wittelsbachern beherrschte Herzogtum Bayern hat die Juden bereits im 15. Jahrhundert vertrieben und diese Ausweisung im 16. Jahrhundert bestätigt. Dennoch gab es zahlreiche jüdische Gemeinden in kleinen Fürstentümern und Reichsritterschaften. Die größte jüdische Gemeinde entwickelte sich in Fürth, wo es eine bedeutende hebräische Druckerei und Talmudschule gab.

Welche Rolle spielte Bayern während der NS-Zeit?

Brenner: Zunächst muss man sagen, dass sich die Juden im Bayern des 19. Jahrhunderts schnell integriert haben. Viele sind in die Großstädte gezogen und dort Teil des Bürgertums geworden. Zahlreiche Begriffe, die wir mit dem heutigen Bayern assoziieren, werden auch mit Juden in Verbindung gebracht: Das Trachtenhaus Wallach in München hat mehr für die Verbreitung von Dirndl und Lederhosen getan als irgendeine andere Einrichtung. Die Brauerei Löwenbräu wurde von der jüdischen Familie Schülein betrieben. Der FC Bayern München wurde 1932 erstmals Deutscher Meister, als er einen jüdischen Trainer und Präsidenten hatte.

Ein Jahr später zählte all das nicht mehr. Hitler ist ja in München zum Politiker geworden. Er hat dort 1923 nicht nur erstmals versucht, an die Macht zu kommen, er hat München in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auch als Testgelände für seine antisemitischen Aktionen benutzt. Nach 1933 ging Bayern in vielen Aktionen, die gegen Juden gerichtet waren, dem Rest des Reiches voran. Wohl kein Gauleiter war so brutal antisemitisch wie Julius Streicher in Nürnberg. In München und Nürnberg wurden die Synagogen Monate vor der Pogromnacht im November 1938 abgerissen.

Und dennoch ist die Geschichte jüdischen Lebens in Bayern mehr als Leid und Schoah...

Brenner: Ja, selbst nach der Schoah bildete sich in Bayern schnell wieder jüdisches Leben heraus. Das geschah aber eher unfreiwillig. Hier wurden viele der sogenannten Todesmärsche befreit, wie auch die Konzentrationslager Dachau und Flossenbürg mit ihren Außenlagern. Bis 1950 war Bayern ein Mittelpunkt jüdischen Lebens für die osteuropäischen Holocaustüberlebenden. Als der Staat Israel gegründet wurde und die USA ihre Einwanderungsgesetze lockerten, verließen die meisten dieser jüdischen Überlebenden Bayern und Deutschland. Die 5.000 Personen, die blieben, begründeten jüdisches Leben in Bayern neu.

Manch bayerischer Jude hat es zu großer, teils weltweiter Bekanntheit gebracht...

Brenner: Im 19. Jahrhundert mussten viele Juden Bayern verlassen, da es sehr restriktive Matrikelgesetze gab. Diesen zufolge durfte an einem Ort die Zahl der Juden nicht ansteigen. Unter den Auswanderern nach Amerika befand sich auch ein junger Mann aus Buttenheim in Oberfranken namens Loeb Straus, der dann als Levi Straus als Erfinder der Jeans galt. Von den zur Auswanderung gezwungenen bayerischen Juden nach 1933 sei nur Henry Kissinger aus Fürth erwähnt, der spätere amerikanische Außenminister.

Welche Rolle spielt die Wiedervereinigung für das jüdische Leben in Bayern?

Brenner: Der Fall der Berliner Mauer hatte große Bedeutung für die Zukunft jüdischen Lebens. Mit dem Zerfall der Sowjetunion durften aus deren Nachfolgestaaten auch die Juden ausreisen. Nach Deutschland gelangten über 100.000 jüdische Einwanderer, die auch in Bayern das jüdische Leben spürbar belebten. So leben heute in München wieder knapp 10.000 Juden, fast so viele wie vor 1933. Von den einstmals über 200 jüdischen Gemeinden in Bayern existieren aber nur noch 13.

Wie hoch war hier der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Bayern zu ihren "besten Zeiten"?

Brenner: Heute leben in Bayern 18.000 Juden. Das entspricht gerade einmal etwas mehr als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es in Bayern 46.000 Juden gegeben. Da hatten sie wegen der hohen Auswanderung im 19. Jahrhundert bereits ihren Höchststand von etwa 60.000 im Jahre 1840 unterschritten. Damals bedeutete das auch prozentual den höchsten Anteil an der bayerischen Gesamtbevölkerung, mit etwas über einem Prozent. In manchen kleinen Orten in Franken und Schwaben sowie dem oberpfälzischen Markt Floss bildeten sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts sogar über 20 Prozent der Ortsbevölkerung.

Würden Sie sagen, es gibt einen - oder mehrere - Zeitpunkte, ab dem sich Juden in Bayern ganz selbstverständlich zu Hause fühlten? Und wie ist das heute?

Brenner: Sicherlich am ehesten in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert. Nach dem Holocaust gibt es in Deutschland natürlich immer ein Fragezeichen hinter jeder jüdischen Existenz. In den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts sah es danach aus, als ob alle Zeichen auf eine langfristige Zukunft jüdischen Lebens auch in Bayern standen.

Mit dem Einzug rechtsradikaler Parteien in Bundes- und Landtag sowie deren öffentlicher Relativierung der Naziverbrechen und mit der Zunahme antisemitischer Hassverbrechen haben manche bayerischen Juden wieder Zweifel an dieser Zukunft. Dennoch gehe ich davon aus, dass sich jüdisches Leben zumindest in den größeren Gemeinden in Bayern weiterhin etablieren wird.

Wie kann es sein, dass seit Jahrhunderten Juden in Bayern leben - und trotzdem bisweilen als fremd empfunden werden? Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

Brenner: Wir sollten immer darauf achten, die vermeintlich Anderen nicht auszugrenzen, sondern als Gewinn für die Zukunft unserer Gesellschaft anzusehen. Dies gilt nicht nur für die Juden, sondern auch für Angehörige anderer Religionsgemeinschaften sowie für Zuwanderer, die viele der Vorfahren der heutigen bayerischen Bevölkerung ja auch waren.