Obdachlosigkeit. In jeder etwas größeren Stadt sind wir damit konfrontiert, sehen Menschen, die auf der Straße leben. Und schauen meistens weg. Da kann man nichts machen, lautet oft unsere achselzuckende Erklärung. Zumindest nicht wir selbst.

Obdachlosigkeit lässt sich nicht auf individueller Ebene lösen

Stimmt das? "Zur Lösung der Wohnungslosigkeit braucht es politische Entscheidungen, auf individueller Ebene können Sie das nicht lösen", sagt Karin Lohr. Sie ist Geschäftsführerin der Münchner Odachlosenzeitung "BISS" und nennt im Gespräch mit dem Sonntagsblatt auch direkt konkrete Forderungen: Höhere Erbschaftssteuer, eine Vermögens- oder Spekulationssteuer.

Das scheint klar zu sein: Wenn wir über Obdachlosigkeit sprechen, sprechen wir immer auch über Geld, das fehlt. Zum einen bei den Betroffenen selbst. Die Inflation und die steigenden Energiepreise werden zu einer weiteren Verschlimmerung führen, ist Karin Lohr sicher. Bei vielen seien die monatlichen Ausgaben ohnehin schon auf Kante genäht. Man wisse eigentlich, dass die Hartz-IV-Sätze (seit kurzem in Bürgergeld umbenannt) zu niedrig seien.

"Alle Experten sagen, es müssten 650 Euro im Monat pro Person sein, plus die Kosten für Unterkunft und Heizung – und das war vor der Inflation." 

Es fehlt Geld – und Wohnungen

Zum anderen fehlt auch Geld für Wohnungen. Werena Rosenke ist Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Berlin.

"Das Grundproblem ist, dass wir viel zu wenige Wohnungen akquirieren können für wohnungslose Menschen",

sagt sie dem Sonntagsblatt. Es gebe viele Träger, die seit Jahren versuchten, Kooperationsbeziehungen zu Wohnungsbauunternehmen oder auch privaten Vermietern aufzubauen, um eine Möglichkeit zu haben, Wohnungslose zu vermitteln. 

Und was ist mit dem Mythos, viele Obdachlose wären freiwillig ohne Wohnung? Sozialarbeiter Max Hopperdietzel aus Nürnberg winkt ab. "Es gibt natürlich auch Leute, die sagen, mir gefällt es gut auf der Straße. Aber die allermeisten hätten liebend gern eine Wohnung, hätten liebend gern bessere Lebensumstände", schildert er seine Erfahrungen. 

Die Probleme seien sozialer Natur:

"Wenn Sie mal eine ordentlich schlechte Schufa und vielleicht noch Vorstrafen und Mietschulden oder sonst was haben: Sie kriegen keine Wohnung mehr."

Das gelte auch bei den kommunalen oder staatlichen Wohnungsbaugesellschaften. 

Video: Nach 30 Jahren Straße – endlich die eigene Wohnung

Housing First: Jeder Mensch kann wohnen

Hopperdietzel leitet in der fränkischen Metropole ein Projekt, in das viele große Hoffnung setzen, er selbst mit eingeschlossen. Housing First nennt sich der Ansatz, der davon ausgeht, dass ein Mensch, der auf der Straße lebt, erstmal eine eigene Wohnung braucht, bevor er wieder Arbeit finden und ein geregeltes Leben beginnen kann. Lange sei es in der Obdachlosenhilfe genau andersherum gewesen, erklärt Hopperdietzel. 

Housing First gehe davon aus: "Wohnen kann der Mensch", fährt Hopperdietzel fort. Er selbst sei anfangs sehr skeptisch gewesen, als er von dem Konzept erfahren habe. Aber die Praxis habe ihn überzeugt.

"Es funktioniert tatsächlich , dass man für Menschen, auch mit sehr schwierigen sozialen Umständen, eine Wohnung vermittelt und parallel intensive, aber freiwillige psychosoziale Begleitung anbietet."

Dieses Zusammenspiel ist seiner Meinung nach das Erfolgsrezept von Housing First.

Kritik: Housing First funktioniert nicht für alle

Auch Werena Rosenke von der Wohnungslosenhilfe findet Housing First gut. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass es nicht für alle von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen gleich gut funktioniere. 

"Housing First ist ein Konzept für Menschen mit besonders komplexen Hilfebedarfen. Also Leute, die entweder schon sehr lange wohnungslos sind oder lange auf der Straße gelebt haben, oder die vielleicht auch bestimmte Erkrankungen somatische oder psychischer Art haben, die dann schneller in eigenen Wohnraum vermittelt werden sollen." Es sei natürlich zu unterstützen, dass diejenigen, die bisher ganz hinten in der Schlange gestanden hätten, zügiger an Wohnraum kämen.

Aber auch da gebe es bestimmte Hürden, erklärt Rosenke weiter.  Bei allen Housing-First-Projekten müsse sichergestellt sein, dass die Miete übernommen werde:

"Das heißt, die Leute müssen im Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfebezug sein."

Und es bedeute auch, die Gruppen, die das nicht sind, etwa wohnungslose Menschen aus anderen europäischen Ländern, würden nicht vermittelt. Es sei deshalb wichtig, dass es verschiedene Ansätze gäbe.

Beispiel Finnland macht Hoffnung

Kein Allheilmittel also? Hopperdietzel ist sich sicher, dass die Wohnungslosigkeit mit Housing First signifikant gesenkt werden könne. Man brauche dafür allerdings, genau, Geld. Der Sozialarbeiter verweist auf Finnland, wo Housing First schon "gewissermaßen Staatsräson" sei. Das heißt, es wird dort vom Staat finanziert, gesichert und gefördert.

"Finnland ist das einzige Land, in dem die Zahl der Wohnungslosen in Europa in den letzten Jahren gesunken ist", sagt Hopperdietzel. Und das deutlich, etwa zwischen 25 und 30 Prozent.

"Die schließen inzwischen Obdachlosenasyle und wandeln sie in Wohnungen um."

Aber auch er weiß um die Grenzen des Konzepts. "Es wird natürlich immer Menschen geben, die sich so einem System entziehen." Menschen, die Angststörungen hätten, oder Verfolgungsideen. Für diese sei eher die Psychiatrie zuständig. 

Geld würde helfen

Eins gibt Hopperdietzel außerdem noch zu bedenken: Das Argument, dass wirkungsvolle Hilfe zu teuer sei, gelte nicht. "Es ist immer das Teuerste, nichts zu machen bei schwierigen Menschen", führt er aus. "Denn dann übernimmt die Justiz, die Psychiatrie oder die Notaufnahme im Krankenhaus und dann geht es richtig ins Geld."

Seine Hoffnung: Möglichst viele Leute davor bewahren, mit einer besseren Finanzierung für Housing First – auch in der aktuellen Bundesregierung gäbe es Menschen, die den Ansatz unterstützten. Denn das ist klar: Geld ist ein ganz entscheidender Faktor in der Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Egal, auf welche Konzepte man letztlich setzt. 

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Wenn Sie eine Wohnung haben und diese an Obdachlose vermieten wollen: 

Hier können Sie mit Housing First Nürnberg Kontakt aufnehmen

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