Pompeji, im Jahr 2018 nach Christus. Es ist noch früh am Morgen, doch die Sonne brennt bereits erbarmungslos auf die Ruinenstadt am Fuße des Vesuvs. Was Touristen aus aller Welt nicht davon abhält, mit Wasserflaschen bewaffnet die antiken Straßen zu erobern. Innerhalb kürzester Zeit wimmelt es dort nur so von Menschen: Reisegruppen, die brav ihrem Fähnchen haltenden Fremdenführer hinterhertrotten. Besucher, die orientierungslos beim Laufen auf ihre Faltpläne starren. Andere vertrauen der Google-Navigation ihres Smartphones oder haben Kopfhörer auf und lauschen mit konzentrierter Miene ihrem Audioguide.

Claudio Scarpati braucht nichts von alledem. Der Professor für Vulkanologie, der hauptberuflich an der Universität von Neapel lehrt, kennt fast jeden Stein auf dem weitläufigen Gelände. Kein Wunder, schließlich verbringt er so gut wie jede freie Minute in Pompeji. Selbst in der größten Hitze. "Ich muss meinen Job wirklich lieben", stellt er selbstironisch fest und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Um seinen Hals baumelt ein Ausweis, der ihm Zugang zu den aktuellen Ausgrabungen gewährt. Für den Wissenschaftler ein großes Privileg. Zumal er es mit seiner Frau Annamaria teilen kann. Die beiden sind in Pompeji die einzigen Geologen, die seit rund 20 Jahren kontinuierlich vor Ort arbeiten.

Verschüttete Häuser im Originalzustand in Pompeji

Geld verdienen lasse sich damit keines, versichert Scarpati. Darum gehe es ihnen auch nicht. "Für uns ist Pompeji wie ein Labor, wo wir unsere Forschungen betreiben können." Sein Fokus liegt im Gegensatz zu den Archäologen nicht auf der Ortung und Katalogisierung von Gegenständen, sondern auf der Analyse der Schäden und Zerstörungen an den Gebäuden, die sich anhand der einzelnen Gesteinsschichten den verschiedenen Phasen der Eruption zuordnen lassen. Eine Blaupause für künftige Vulkanausbrüche sei dies zwar nicht, räumt der Geologe ein. Jede Eruption verlaufe anders.

Trotzdem seien die Rückschlüsse, die man aus den Steinablagerungen ziehen könne, sehr wertvoll. "Es geht dabei ums Verstehen der komplexen chemischen und physikalischen Prozesse." Nicht der rekonstruierte, ausgegrabene Teil der Stadt, in dem die Touristen herumlaufen, sei daher spannend für ihn, sondern eben die verschütteten Häuser im Originalzustand. Eingestürzte Dächer und Wände mit ihren Gesteinsschichten, bevor sie freigelegt werden. Sie lieferten wichtige Beweise, sagt er.

Wer mit Claudio Scarpati unterwegs ist, hat schnell das Gefühl, mit einem Ermittler an einem Tatort zu sein. Zugegeben, mit einer leichten Verspätung von rund 1939 Jahren. Doch das spielt in diesem Fall keine Rolle. Denn am Ort des Geschehens ist die Zeit stehen geblieben, der Moment wurde für alle Ewigkeit konserviert.

Damit ist der Untergang Pompejis, die größte Tragödie der Antike, für die heutige Wissenschaft ein einmaliger Glücksfall, betont der 55-Jährige. Wobei seit der offiziellen Wiederentdeckung der Stadt im 18. Jahrhundert bei der Forschungsarbeit immer wieder Fehler gemacht wurden. "Anfangs arbeiteten hier vor allem Ingenieure, Soldaten und Archäologen. Geologische Gesichtspunkte wurden völlig außer Acht gelassen." Darüber hinaus seien Funde oftmals nicht sorgfältig dokumentiert worden. Umstände, die es notwendig machten, unter Einsatz der inzwischen neuen technischen Möglichkeiten, alle Unterlagen – vor allem aus geologischer Sicht – nochmals zu überarbeiten.

Vulkanologe Claudio Scarpati

Am Forum, dem zentralen Platz, auf dem sich damals das öffentliche und politische Leben in Pompeji abspielte, bleibt Scarpati stehen. Hinter ihm zeichnet sich im Dunst der Morgensonne in der Ferne der Umriss des Vesuvs ab.

"In der Antike sah die Silhouette anders aus", klärt der Vulkanologe auf. "Damals war der Bergkegel durch vorangegangene Ausbrüche um die Hälfte niedriger bzw. flacher als heute und wirkte weniger bedrohlich. Bis heute hat der Vulkan sein Aussehen durch Eruptionen immer wieder verändert."

Der Professor deutet auf die noch stehenden Hauswände. "Alle Dächer, die man heute in Pompeji sieht, sind rekonstruiert. Die meisten Gebäude waren damals zweistöckig, nach dem Ausbruch war kein einziges Dach mehr da. Sie wurden alle abrasiert. Nur, was sich unterhalb dieser Linie befand, wurde konserviert."

Warum dem so ist, verraten ihm die verschiedenen Gesteinsschichten. "Sie erzählen von dem Drama, das sich genau hier damals innerhalb von nur 24 Stunden abspielte", beginnt Scarpati seine gedankliche Zeitreise. Die funktioniert dank seiner anschaulichen Schilderung auch ohne Virtual-Reality-Brille.

Katastrophe in Pompeji begann mit Ascheregen

Es fing demnach alles mit einem schwachen Ascheregen an, den die Einwohner anfangs ignorierten. In der ersten großen Phase der Eruption bildete sich dann jedoch eine rund 32 Kilometer hohe Rauchsäule aus Asche, Gasen und Steinchen, die wie ein Pilz immer weiter vom Vulkankrater hoch in die Stratosphäre stieg.

Für die Bewohner von Pompeji sicherlich ein bedrohlicher Anblick. Irgendwann, erklärt Scarpati, sei der Punkt erreicht gewesen, an dem aufgrund des physikalischen Dichteverhältnisses die Säule gestoppt wurde, sich seitlich ausbreitete und nach unten regnete. In ihr war Bimsstein, der innerhalb von 19 Stunden die ganze Stadt mit einer drei Meter hohen Schicht bedeckte. Besser gesagt einhüllte. Dieses softe, poröse Gesteinsmaterial, betont der Geologe, sei der Grund dafür, warum Pompeji der Nachwelt so gut erhalten blieb.

Was für die Wissenschaft ein Segen ist, wurde für die Bewohner zum Fluch. Der südliche Wind, der die Wolke mit maximaler Konzentration auf Pompeji zutrieb, beschleunigte diesen Prozess. In dieser ersten Phase, berichtet der Geologe, starben rund 38 Prozent der 1044 Opfer, die in Pompeji gefunden wurden. Aber nicht etwa durch die Gesteinswolke an sich.

Vor dieser, so der Experte, konnten sich die Menschen schützen, indem sie sich zum Beispiel ein Kissen vors Gesicht hielten. Doch weil viele zum Schutz im Gebäude blieben, wurden sie von den unter dem Gewicht der Bimssteinschicht einstürzenden Dächern erschlagen.

Pompeji

Das Schicksal aller übrigen Bewohner Pompejis, die diese erste Phase überlebt hatten, war jedoch spätestens mit der nächsten endgültig besiegelt. Denn in einer zweiten Phase der Eruption fegte ein explosives Gemisch aus Asche und Gas wie eine Lawine über die Stadt hinweg. Alles, was oberhalb der Bimssteinschicht lag, wurde mitgerissen, abgeschnitten und zerstört.

Am Ende begrub eine ebenfalls drei Meter hohe Ascheschicht die Stadt Pompeji. Unter den beiden Schichten fand man Tiere, die nicht fliehen konnten, wie zum Beispiel angekettete Hunde oder auch Esel. Aber auch Menschen, die sich in den Armen hielten.

Opfer von Pompeji als Gipsabdruck

Ihre Schicksale sind es, die die Katastrophe auch noch für heutige Betrachter so greifbar machen, weiß Scarpati. Er bleibt vor der Villa des Iulius Polybius stehen, in der er selbst bei der Restaurierung dabei war. Hier wurden elf Opfer gefunden, darunter eine schwangere Frau. Seine Forschungen ergaben: Nachdem die Familie die erste Phase überlebt hatte, suchte sie Schutz in den hinteren Räumen, wo ihr Schicksal durch die zweite Phase besiegelt wurde.

Egal, wie viele Körperabgüsse er schon gefunden habe, es berühre ihn emotional immer wieder, gibt der Professor zu. Sei es die Position, in der er die Opfer vorfindet. Oder ihre Mimik und Gestik in der letzten Sekunde ihres Lebens. Viele hielten sich das Gesicht und den Mund zu, mit dem Kopf auf die Erde. Scarpati zeigt auf einen der Körper, die für die Öffentlichkeit hinter einer Glasscheibe zu sehen sind.

Er hält den Kopf auffällig weit nach oben. "Ich denke, dass diese Person Asche einatmete und den Kopf hochhielt, um Luft zu bekommen. Es war ein minutenlanger qualvoller Tod", ist sich der Vulkanologe sicher.

Pompeji

Die Idee, die menschlichen Körperabdrücke zu erhalten, stammt vom italienischen Archäologen Giuseppe Fiorelli. Er begann 1863 damit, den Hohlraum der mit Asche umhüllten Skelette durch eine Öffnung mit flüssigem Gips zu füllen, danach wurde die Ascheschicht entfernt, eine weltweit einmalige Technik.

Wie eng Glück und Pech beieinanderlagen, zeigt der nur wenige Kilometer weiter entfernt liegende Ort Herculaneum. Denn der hatte durch eine andere Windrichtung nur wenige Zentimeter Bimsstein abbekommen und kaum Schäden. Allerdings flohen viele der Bewohner vor dem Bimsstein und der Asche an den Strand bzw. Hafen, wo sie auf Schiffe warteten. Dabei wurden einige Hundert Personen infolge der hohen Temperaturen des Ascheregens getötet, wie Funde vor einigen Jahren beweisen, berichtet der Geologe.

Scarpati empfindet seinen Beruf als Berufung. Schon als Kind, erinnert er sich, war er fasziniert von der Wissenschaft. Doch bis zu seiner Professur an der Universität Neapel war es ein langer, im wahrsten Sinne des Wortes, steiniger Weg. Mit 37 Jahren erreichte er schließlich seine gewünschte Forschungsposition. Einen Ausbruch des Vesuvs hat Scarpati nie live miterlebt. Der letzte bedeutende war 1944, also vor seiner Geburt. Hand aufs Herz: Möchte er als Vulkanologe nicht einmal einen Ausbruch "seines Vulkans" sehen? Wartet man darauf nicht sein Leben lang? "Als Neapolitaner sage ich natürlich Nein, als Wissenschaftler Ja", gibt er ehrlich zu.

Pompeji

Wie wahrscheinlich der nächste Ausbruch ist und wann er kommt, kann Scarpati auch als Experte nicht sagen. Das wäre nur Spekulation. Fakt ist: Eines Tages wird es so weit sein. Bis dahin ist es wichtig, die Warnzeichen zu erkennen und richtig einzuordnen. "Die Entscheidung, ob Neapel im Ernstfall evakuiert werden müsste oder nicht, das ist doch die eigentliche Krux."

Scarpati hat den Eindruck, dass die Bewohner um die Gefahr wissen, aber lieber im Verdrängungsmodus leben. Die Leute würden zwar im Observatorium anrufen, wenn sie was spüren oder sehen würden, und es gäbe auch Notfallpläne, aber die Jugend habe eben keine Erinnerung daran, der letzte Ausbruch liege zu lange zurück. "In den Schulen erzählen sie erstaunlicherweise nichts über den Vesuv. Auch mein Lehrer sprach nie darüber."

Pulverfass heute: Phegräischen Felder westlich von Neapel

Wobei das viel größere Sorgenkind eh die Phlegräischen Felder seien, die nur wenige Kilometer westlich von Neapel liegen. "Hier befinden sich flach unter der Erde zig Krater mit einer Magmakammer mit einem hochexplosiven Potenzial."

Eine zweite Leidenschaft hat Scarpati übrigens dann doch noch, wie sich rausstellt. Wenn er nicht Vulkanologe geworden wäre, offenbart er, dann wohl Filmregisseur. Umso mehr leidet er bei schlecht gemachten Blockbustern aus Hollywood wie "Pompeji" mit Kiefer Sutherland aus dem Jahr 2014. "Der Film war furchtbar. Alle Fakten wurden verdreht. Sie haben die Stadt quasi umgedreht, nur um bei den Szenen im Amphitheater den Vulkan im Hintergrund zu haben. Ganz zu schweigen davon, dass sie einen Tsunami mit Wasserfluten eingebaut haben", seufzt er kopfschüttelnd.

Mit ihm als Regisseur wäre das natürlich nicht passiert. Für den Fall, dass die Traumfabrik sich für ein Remake bei ihm melden sollte, hat Scarpati jedenfalls schon mal das passende Profilfoto bei Whatsapp eingestellt. Ein Bild von ihm. Im Hintergrund der Vesuv. Was sonst.