Mit dem "Streit um Heimat" haben sich Prominente aus Politik und Gesellschaft in Tutzing befasst. Ob Heimat zum Gegenstand von Politik werden dürfe und solle, war die Ausgangsfrage auf der Herbsttagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. Heimat sei "kein unschuldiges Wort", sagte Wolfgang Thierse, Leiter des Politischen Clubs und ehemaliger Bundestagspräsident.

Staatssekretär Kerber: Viele Menschen haben mehrere Heimaten

Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesinnenministerium unter Horst Seehofer (CSU) und zuständig für das Ressort Heimat, sieht Identitätsstiftung durch Heimat als politische Aufgabe. Sein Ressort will bis Juli 2019 einen Bericht mit Vorschlägen vorlegen, wie sich eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland erreichen lässt. Dieses sei eine Querschnittsaufgabe, "und wir werden anderen Ministerien reinreden", kündigte Kerber an. Geplant sei unter anderem, die Kommunen zu stärken und einen flächendeckenden Zugang zum Mobilfunk bereitzustellen. 

Für Kerber ist Heimat heute "individuell-plural": Viele Menschen hätten mehrere Heimaten. Dabei sei "die offene Gesellschaft Teil unserer kulturellen Identität". Der Heimatbegriff sei "handhabbarer als der Begriff Leitkultur". Welche Werte Heimat ausmachten, werde immer neu ausdiskutiert. Viele Bürger hätten Angst vor dem rasanten Wandel durch Globalisierung und Digitalisierung; auf dem Land gebe es immer mehr abgehängte Orte, in den Städten zunehmende Anonymität und Uniformität. Die Sehnsucht nach einer "vermeintlich heilen Welt" treibe viele Wähler der AfD zu, "obwohl der Glaube an eine kulturelle Homogenität ein Konstrukt derer ist, die so tun, als würde Zuwanderung unsere Heimat zerstören".

Soziologe Nassehi: Heimatlosigkeit ist Grunderfahrung der Moderne

Für den Münchner Soziologen Armin Nassehi verweist die Diskussion um Heimat auf den wachsenden Vertrauensverlust in Institutionen. Dadurch sei "das Gefühl zu wissen, wo man hingehört, durcheinandergeraten". Vermeintliche Gewissheiten stünden heute neu zur Debatte, auch in der Geschlechterfrage. Dass sich die Verunsicherung zunächst in Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie entlade, seien "normale Reaktionen auf Krisen".

Die Heimatdiskussion zeigt für Nassehi eine "Krise der modernen Welt" auf. Die Frage nach der Herkunft sei heute nicht mehr so eindeutig zu beantworten. Heimatlosigkeit sei eine Grunderfahrung der Moderne. Europa erlebe zurzeit einen "Kulturkampf um Zugehörigkeit". Dabei sei die Nation ein Konstrukt. "Heimat" werde meist kleinräumiger verstanden: als vertraute Lebenswelt, in der man "nicht nachdenken muss, um sich darin zu bewegen". 

Grünen-Politiker Özdemir: Heimatbegriff nicht den Falschen überlassen

Der frühere Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir hält nichts von der Schaffung des Bundesheimatministeriums. Das Thema Heimat müsse nicht zentral geregelt werden, sagte er: "Es gibt ja auch kein Bundesliebesministerium." Özdemir erläuterte: "Ich bin mir nicht so sicher, ob eine Abteilung im Organigramm des Innenministeriums ausreicht, um den Heimatbegriff im Bund zu verankern."

Zugleich "dürfen wir ihn nicht den Falschen überlassen", sagte er mit Anspielung auf die völkisch-nationalistische Verwendung etwa bei der AfD. Gefragt nach ihren Sorgen um die Heimat, antworten Özdemir zufolge viele Menschen: das langsame Internet auf dem Land, die schlechte Busverbindung. Doch gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen sei Aufgabe anderer Ministerien.

Wenn man es mit der Heimat ernst meine, müsse man den Klimaschutz ganz oben ansiedeln, unterstrich Özdemir: "Man kann nicht seine Heimat schützen, wenn man nicht zugleich auch die Heimat der anderen mit schützt." Wenn der Klimawandel nicht aufgehalten werde und etwa die Landwirtschaft in Afrika kaputtgehe, dann "droht Flucht und Migration zum Dauerphänomen zu werden". Özdemir zitierte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne): "Die Verfassung ist unsere Heimat."