Die Seenotrettung von Flüchtlingen scheint immer mehr zum beherrschenden Thema in der gesamten Migrationsproblematik zu werden - auch in der Kirche.

Michael Martin: Da muss man zuerst einmal differenzieren. Denn es ist ein großer Skandal, dass Menschen, die in Not geratene Mitmenschen retten, behindert und sogar kriminalisiert werden. Wer in eine lebensgefährliche Notlage gerät - aus welchen Gründen auch immer - muss gerettet werden. Das ist ein Grundgebot unseres Zusammenlebens, von Humanität und christlichen Werten. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass diese Geflüchteten nur ein verschwindender Bruchteil der weltweiten Fluchtbewegungen sind.

Die unmittelbar aus Seenot geretteten Flüchtlinge werden jedoch mit ihrem individuellen Schicksal greifbar.

Martin: Natürlich bekommt hier die Not ein Gesicht und dadurch Anteilnahme. Darüber dürfen aber nicht die 70 bis 80 Millionen Frauen, Männer und Kinder vergessen werden, die auf der Flucht sind, viele davon als Binnenflüchtlinge, die in einen anderen Teil ihres Heimatlandes fliehen mussten, etwa in Syrien.  Und der ganz überwiegende Teil wird nicht von den reichen europäischen Ländern, sondern von bettelarmen afrikanischen Nachbarstaaten aufgenommen, so beispielsweise in Nordkenia, wo in großen Lagern geflohene Sudanesen leben. Deshalb mutet es schon sehr seltsam an, wenn wir in unserem reichen Deutschland in Depression verfallen und meinen, das Ende sei nahe, wenn wir mit einer relativ geringen Anzahl geflüchteter Menschen konfrontiert werden. Zumal wir in Deutschland ja nicht schuldlos an den Fluchtgründen dieser verzweifelten Menschen sind.

Worin liegt denn diese Schuld?

Martin: Ein wesentlicher Faktor sind immer noch unsere Rüstungsexporte, weil sie im Wortsinn kriegerische Konflikte, etwa auf der arabischen Halbinsel, befeuern. Ein zweiter Problemkreis ist unser Umgang mit überzähligen Lebensmitteln. So werden beispielsweise Hähnchenteile, die in Europa nicht gegessen werden, zu Dumpingpreisen nach Afrika exportiert und machen dort den Markt für landwirtschaftliche Produkte kaputt, das gleiche trifft auf Textilien zu.

Ein besonders absurdes Beispiel ist die Tomatenernte in Italien: Saisonarbeiter aus Nordafrika helfen bei der Ernte mit, die Tomaten-Überproduktion wird dann zu konkurrenzlosen Dumpingpreisen nach Afrika exportiert und vernichtet die Existenzgrundlage dieser einheimischen Erntehelfer.

Die Förderung von Rohstoffen, die ja der Schatz dieser Länder sind, ist nahezu ausschließlich in der Hand internationaler Konzerne, manche einheimische Arbeiter kommen zu einem mühsamen und gesundheitsgefährdeten Lebensunterhalt, indem sozusagen illegal mit bloßen Händen in den Abraumhalden nach Rohstoffen suchen.  

…aber wenigstens die Entwicklungshilfe hat doch positive Auswirkungen.

Martin: Vorweg eine interessante Relation. In den letzten Jahrzehnten sind 70 Milliarden Euro Entwicklungshilfe aus Deutschland nach Afrika gegangen und genau 70 Milliarden sind in diesem Zeitraum aus Afrika in die Länder der nördlichen Halbkugel in Immobilien und auf Bankkonten geflossen. Allein diese Zahl zeigt, dass das Geld der Entwicklungshilfe eben oft nicht da ankommt, wo es ankommen soll, sondern in einem korrupten System von Eliten zweckentfremdet wird. Deshalb kooperiert auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, dessen Arbeit ich sehr schätze, mit Organisationen wie den Kirchen, weil sie unmittelbare Kontakte zu der Bevölkerung haben und wissen, was mit den Geldern vor Ort passiert.

Ein Problem für die Entwicklungshilfe ist aber ganz generell, dass gerade viele Afrikaner wegen den Erfahrungen aus der Kolonialzeit Europa und Amerika mit großer Skepsis gegenüberstehen. Deshalb lieben einige vor ihnen geradezu die Chinesen, weil sie gezeigt haben, wie man sich aus eigener Kraft aus Abhängigkeiten befreien und eine zumindest funktionierende Wirtschaft aufbauen kann.

Das ist doch ein sehr deprimierendes Bild.

Martin: Bei allen, auch wirklich tiefgreifenden und strukturellen, Problemen gibt es nach meiner Überzeugung durchaus Hoffnung. Die speist sich daraus, dass die Klimafrage, mit der ja auch die Dimension einer weltweiten Gerechtigkeit verbunden ist, gerade in den letzten Monaten wieder viel mehr in den Fokus gerückt ist und beispielsweise unser enormer C02-Austoß, häufig zu Lasten der südlichen Erdkugel, kritisch hinterfragt wird. Große Hoffnung machen aber neue Aufbrüche in Afrika selbst.

Mit dem Konzept "The Africa you want" gibt es gute Ansätze, wie der Kontinent die großen Möglichkeiten, die er hat, selbst in die Hand nehmen kann, wozu auch die Bekämpfung der Korruption, der Aufbau einer Zivilgesellschaft und die Überwindung kultureller und religiöser Konflikte gehört. Von den intensiven Beziehungen zu unserer Partnerkirche nach Tansania weiß ich, dass dort zahlreiche selbstentwickelte Projekte auf den Weg gebracht werden.

Obwohl die Menschen oft von der Hand in den Mund leben, strahlen sie Freundlichkeit und Hoffnung aus, haben ein großes Potential. Zu diesem Aufbruch gehören aber auch Stimmen aus Afrika, die knallhart sagen, lasst uns mit euren guten Ratschlägen in Ruhe, ihr wisst alles besser, euer Geld macht alles kaputt, weil ihr unsere Strukturen und Kulturen gar nicht kennt.

Wie kann die Kirche diese Aufbrüche befördern?

Martin: Wir können als Kirche hier bei uns immer wieder die Situation in den Ländern der südlichen Hemisphäre ansprechen, weil wir durch unsere Partnerschaften mit den Kirchen vor Ort ein internationales Netz haben und so authentische Erfahrungen aus erster Hand weitergeben können. Denn die Kirche orientiert sich nicht zuerst an wirtschaftlichen Interessen, sondern an den Menschen und ihrem Lebensumfeld.

Die Klimabedrohung wird dann schon sehr anschaulich, wenn Christen von den Fidschi-Inseln berichten, wie ihnen buchstäblich der Boden unter ihren Füßen absäuft.

Die Kirche arbeitet nicht mit Staaten zusammen, sondern mit den jeweiligen Ortskirchen und Nichtregierungsorganisationen. Dadurch werden das einzelne Individuum und die Zivilgesellschaft insgesamt gestärkt.  Voraussetzung dafür ist aber, dass wir theologisch begreifen, dass wir als Kirche weltweit zusammengehören, dass wir zusammen mit allen anderen, egal wo sie leben, die Kirche Jesu Christi sind. Das ist dann auch mit einer Verantwortung verbunden, die über unsere bayerischen Befindlichkeiten, Sorgen und Organisationsfragen, so wichtig die auch sind, weit hinausreicht.   

Dieser Ansatz müsste aber vor allem auch bei der Integration von Flüchtlingen gelten.

Martin: Wenn wir eine Weltkirche und weltweite Gemeinschaft sein wollen, was mit Leben gefüllt werden muss, damit diese Erde und Gottes Schöpfung weiter eine Zukunft haben kann, brauchen wir offene Türen für Menschen aus anderen Kulturen. Das beginnt mit Kontaktflächen zwischen Menschen verschiedener Herkunft. Deshalb setzte ich sehr auf die Schulen, in denen junge Menschen gemeinsam lernen, und auf die Handwerksbetriebe, in denen es schnell völlig egal ist, ob der tüchtige Lehrling ein Einheimischer ist oder aus Afghanistan stammt.

Bewährt hat sich deshalb, wenn geflüchtete Menschen dezentral und in überschaubarer Zahl in kleineren Orten untergebracht werden, weil da schnell zwischenmenschliche Beziehungen entstehen. Deshalb sehe ich auch die Anker-Zentren sehr kritisch, weil da Flüchtlinge isoliert von der Bevölkerung auf engem Raum zusammen leben müssen - mitunter sogar mit Menschen, die in den Heimatländern ihre Feinde waren. Durch derartige Situationen sind Konflikte geradezu vorprogrammiert. Klar ist aber, dass Abschiebungen, wie sie politisch gewollt sind, bei Flüchtlingen schwieriger werden, wenn sie dezentral und in Kontakt und Austausch mit den Menschen ihrer Umgebung leben, die sich dann häufig für sie einsetzen.

Wie steht es um die Integration geflüchteter Menschen in die Kirchengemeinden?

Martin: Mit einer Projektstelle haben wir festgestellt, dass in den letzten Jahren rund 300 evangelische Gemeinden anderer Kultur oder Sprache in Bayern entstanden sind. Etwa 1.000 Menschen aus dem Iran sind nach Taufkursen in unsere Kirche aufgenommen worden und zum Teil schon gut integriert, bis hinein in die Kirchenvorstände.

Es bleibt aber die Herausforderung, wie und ob diese Christen wirklich eine neue geistliche Heimat in unserer Kirche finden oder eigene Gemeinden gründen werden. Die Aufgabe wird deshalb sein, dass wir uns selbst insgesamt noch viel mehr als Kirche in der Einwanderungsgesellschaft verstehen. Immerhin sind bereits jetzt 20 Prozent der evangelischen Gemeindemitglieder in Bayern nicht in Deutschland geboren.