Kommende Woche soll ein unabhängiges Gutachten über Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising erscheinen. Das Brisante an dem Papier: Untersucht wird der Zeitraum 1945 bis 2019 - also auch Fälle, die in die Amtszeiten von prominenten Kirchenmännern fallen. Dazu zählen allen voran Joseph Ratzinger, der heutige emeritierte Papst Benedikt XVI., der von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof war, sowie sein Vorgänger Kardinal Julius Döpfner (1961-1976) und seine Nachfolger Kardinal Friedrich Wetter (1982-2007) und Kardinal Reinhard Marx (seit 2008).

Eigentlich sollte das mit Spannung erwartete Gutachten im Sommer 2020 erscheinen, wurde dann aber verschoben. Als Begründung nannte die zuständige Münchner Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" (WSW), dass es wegen in der "jüngeren Vergangenheit gewonnenen neuen Erkenntnissen" sowie deren intensiven Überprüfung zu einer "geringfügigen Verzögerung" komme. Das Gutachten soll nun zwischen dem 17. und 21. Januar der Öffentlichkeit präsentiert werden. Eine erneute Verschiebung soll es laut Informationen des Evangelischen Pressedienstes diesmal nicht geben.

Die Ermittlungen zählen auch den Papst an 

In ihrer Pressemitteilung vom November 2020 betonten die Gutachter: Die Repräsentanten der Erzdiözese München und Freising - also auch der amtierende Erzbischof Reinhard Marx selbst - würden vorab nicht informiert, sondern sollen die Ergebnisse erst bei der Präsentation kommende Woche erfahren. Und das könnte durchaus unangenehm für Einzelne werden. Denn: Die Gutachter haben unter anderem geprüft, inwieweit "systemische Defizite" sexuellen Missbrauch durch Kleriker begünstigt haben könnten und gingen auch der Frage von persönlicher Verantwortung nach.

Dabei machen sie auch vor einem Papst nicht Halt: Auch wenn Joseph Ratzingers fünfjährige Amtszeit als Erzbischof von München vergleichsweise kurz war, so steht er doch im Fokus. 1980 wurde der Priester Peter H. ins Erzbistum München und Freising versetzt, der zuvor im Bistum Essen einen elfjährigen Ministranten missbraucht haben soll. Ratzinger habe dem Wechsel von Peter H. nach Oberbayern "in Kenntnis der Sachlage" zugestimmt, zitierte die Wochenzeitung "Die Zeit" Anfang Januar aus einem außergerichtlichen Dekret des Kirchlichen Gerichts der Erzdiözese München und Freising.

Die Vorwürfe wurden zum Teil eingeräumt 

In einer staatsanwaltlichen Vernehmung räumte der Priester Peter H. die Vorwürfe 2008 laut Zeitungsbericht zum Teil ein - zu einem Zeitpunkt, als Reinhard Marx bereits Erzbischof war. 2008 sei H. dann nach einer psychiatrischen Begutachtung von Garching nach Bad Tölz versetzt worden. Die Kirchenrechtler Bernhard Anuth von der Universität Tübingen und Norbert Lüdecke von der Universität Bonn kritisierten in dem "Zeit"-Bericht, dass Marx nur das Gutachten beauftragt habe, aber keine interne Voruntersuchung anordnete und den Fall nicht an den Vatikan meldete:

"Dass er dies nicht getan hat, stellt eine Pflichtverletzung dar."

Ratzinger dementierte stets, zuletzt ließ er kurz nach Weihnachten über seinen Privatsekretär Georg Gänswein die Vorwürfe zurückweisen. Er habe zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme des Priesters H. nicht von den Vorwürfen sexueller Übergriffe gewusst. Die Pressestelle der Erzdiözese München und Freising wollte sich auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) mit Verweis auf das in wenigen Tagen erscheinende Gutachten nicht weiter äußern. Alle dem Ordinariat vorliegenden Akten zum Fall H. seien der mit dem Gutachten beauftragten externen Rechtsanwaltskanzlei zur Verfügung gestellt worden.

Persönliche Konsequenzen sind nicht auszuschließen 

Die Anwaltskanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" ist in Kirchenkreisen keine Unbekannte: Gutachten über sexuellen Missbrauch hat sie bereits für das Bistum Aachen und das Erzbistum Köln verfasst. Letzteres wurde nie vollständig veröffentlicht, das Erzbistum Köln nannte grobe methodische Fehler der Gutachter als Begründung. In der Öffentlichkeit kam der Schritt des Erzbistums Köln als Vertuschung an. Und nun das Münchner Gutachten, das das Erzbistum im Februar 2020 in Auftrag gegeben hatte und das es in sich haben dürfte: Denn die prominentesten Kirchenmänner, die im Fokus stehen - Joseph Ratzinger, Reinhard Marx und Friedrich Wetter - sind allesamt noch am Leben.

Auch personelle Konsequenzen sind möglich: Reinhard Marx hatte bereits im Mai 2021 Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten. "Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten", schrieb er damals an den Papst. Dieser lehnte sein Rücktrittsgesuch nur wenige Tage später ab. Doch Marx ließ dazu verlauten, dass er ein erneutes Rücktrittsgesuch an den Papst nicht ausschließen will, "wenn sich eine neue Situation ergibt oder veränderte Umstände, die meinen Dienst grundsätzlich in Frage stellen".