Eine neue Studie will die sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie untersuchen. Die unabhängige Studie will Erfahrungen und Sichtweisen von Menschen erforschen, die sexualisierte Gewalt und Missbrauch erlitten haben, heißte es im Aufruf der beteiligten Forschungsinstitute. Kris Laufbacher (Name von der Redaktion geändert) begleitet die Studie. Sie ist eine von mehreren Betroffenen, die selbst sexualisierte Gewalt erfahren hat. Im Sonntagsblatt-Interview erklärt sie, was die Studie soll - und warum sie auch Betroffenen helfen könnte.

 

Warum gibt es eine Studie, die sich mit Missbrauch im evangelischen Kontext beschäftigt?

Laufbacher: Es geht um ein umfassendes Bild. Die Strukturen der Institutionen sind nun mal anders als in der katholischen Kirche. Und die Studien wollen herausfinden, ob es irgendetwas typisch Evangelisches gibt, wo man eingreifen kann.

Die Studie umfasst mehrere Teilstudien. Was wird erforscht?

Laufbacher: Die Studie hat unterschiedliche Ansätze und Standorte in Hamburg, Hannover und München. In Hamburg wird vor allem untersucht, ob es Strukturen in den Organisationen gibt, die es besonders einfach machen, sich an Kindern oder Erwachsenen zu vergreifen.

Und eine Teilstudie in München beschäftigt sich mit Betroffenen - wie sieht das aus?

Laufbacher: Es gibt eine Befragung von Betroffenen. Hier geht es um einen Blick auf die Betroffenen selber. Die Studie will herausfinden, was dieser Missbrauch mit den Betroffenen gemacht hat und wo das Erlittene sie hingebracht hat; wo sie heute stehen und wie sie damit umgehen. Betroffene dürfen ausführlich erzählen, was der Missbrauch aus ihrem Leben gemacht hat, wie sich ihr soziales Verhalten verändert hat oder was beruflich kaputt gemacht wurde.

An der Studie sind Betroffene involviert. Was machen Sie da genau?

Laufbacher: Die Befragung wird von Fachleuten durchgeführt. Aber an der Studie sind auch Betroffene beteiligt. Wir geben unseren Input und unsere Sichtweise mit hinein. Da geht es zum Beispiel um die Frage, welche Worte man nutzen darf, um Vertrauen zu erzeugen und Betroffene anzusprechen. Am Anfang stand da zum Beispiel der Satz: Wir suchen Menschen, die in der evangelischen Kirche Missbrauch erleiden mussten. Solche Sätze darf es nicht geben, denn die Menschen mussten gar nichts erleiden, sie haben es erlitten. Es gibt viele solcher Formulierungen, die von Wissenschaftlern verwendet werden und die wir überarbeiten. Bei den Fragebögen haben wir geschaut, was kann man sagen oder was darf auf keinen Fall gefragt werden, weil es traumatisiert oder triggert? Es geht darum, eine Sprachform zu finden, die für uns Betroffene gut verträglich ist.

Melden sich denn jetzt schon Betroffene für die Studie?

Laufbacher: Ja, aber es sind definitiv noch zu wenige. Ich kenne selbst viele Betroffene, die sich nicht trauen. Sie fühlen sich nicht stabil genug. Oder es ist ihnen einfach zu viel. Es ist ein großes Problem, überhaupt an Erfahrungen aus diesem Bereich heranzukommen. Wir sagen den Betroffenen bei unserer Studie, dass sie nicht alleine kommen sollen, sondern sich Unterstützung mitnehmen. Das war auch mein Einstieg.

Wie meinen Sie das?

Laufbacher: Ich möchte als Betroffene andere Betroffene dazu ermutigen, mitzumachen. Die Studie ist ein Bereich, wo sie sich äußern können, ohne dass das unüberschaubare Konsequenzen hat. Wenn man zur Landeskirche geht und davon erzählt, dann wollen die immer gleich irgendetwas in die Wege leiten. Bei der Studie ist jede/jeder frei zu erzählen, was wichtig ist oder das Ganze abzubrechen. Wer erzählt, hilft aber trotzdem der Sache. Je mehr Stimmen wir hören, desto breiter ist das Bild, das entsteht, und desto leichter ist es zu sehen, wo schützende Maßnahmen ergriffen werden können.

Darüber zu sprechen, kann ein Schritt sein, um aus der Ohnmacht des Missbrauchs herauszukommen. Sobald ich das erzähle, bekommt das etwas Eigenmächtiges. Und das ist total toll, wenn ich merke, ich kann etwas bewirken, ohne mich in Gefahr zu bringen.

Die Studie wird Daten liefern, und daraus können Konsequenzen gezogen werden. Das wird nicht verhindern, dass Missbrauch passiert. Aber es wird offensichtlich, wo ein Mangel herrscht und wo besser hingeschaut werden muss.

Wo könnte denn jetzt schon nachgebessert werden in der Aufarbeitung oder in der Prävention?

Laufbacher: Es gibt viel, was getan werden kann. In den meisten Kirchengemeinden ist das Thema Missbrauch noch überhaupt nie erwähnt worden. Ich wünsche mir, dass in Gottesdiensten die Fürbitten erweitert werden für Betroffene.

Auch die Mitarbeitenden müssten besser informiert sein. Ich weiß nicht, ob jeder Mitarbeiter vor Berufsbeginn eine Erklärung unterzeichnen muss, in der eben solche Übergriffe benannt werden. Auch bei der Ausbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer im Predigerseminar müsste es eine Einheit geben, bei der traumasensible Seelsorge gelehrt wird. Das Thema Missbrauch bekommt in der Ausbildung derzeit einfach zu wenig Platz.

Schließlich könnte mehr Material zum Thema produziert werden. Die letzte Broschüre der EKD stammt aus dem Jahr 2014 - aber die ist in keiner Kirchengemeinde erhältlich. Insgesamt muss das Thema einfach viel mehr auf die Tagesordnung kommen - häufiger und regelmäßiger. Das ist lästig und das ist anstrengend. Aber wenn ich zurückblicke, dann wäre der Pfarrer damals nicht so weit gekommen. Das hätte viel verhindert.

Die Evangelische Kirche in Deutschland will auf der Synode im November eine Musterordnung vorstellen, die dazu führen soll, dass alle Landeskirchen das Thema Missbrauch ähnlich angehen. Inwiefern ist das wichtig?

Laufbacher: Diese Musterordnung war dringend nötig. Bislang wurden Betroffene in Bayern anders behandelt als in Sachsen oder Nordrhein-Westfalen. Das hat viel Ärger gegeben und ist auch einfach unfair und intransparent, zum Beispiel, wenn jemand umgezogen ist und dann in einem neuen Bundesland lebt. Die Musterordnung hilft, einen gemeinsamen Maßstab anzulegen.

Auch das Anerkennungsverfahren wurde geändert. Nun soll es keine Beweislast mehr bei Betroffenen geben, richtig?

Laufbacher: Das ist ganz wichtig: Dass ich nicht beweisen muss, dass ich von Herrn XY an dem und dem Tag missbraucht wurde. Es ist ja Betroffenen oft kaum möglich, exakte Angaben zu machen. Das ist schon in zivilrechtlichen Verfahren ein Horror - und im kirchlichen Verfahren ebenso.

Ich habe ein kirchenrechtliches Verfahren hinter mir - und bin ziemlich entsetzt über das, was da gelaufen ist. Das läuft im Kirchenrecht gar nicht gut. Ich bin zum Beispiel als Betroffene in das Verfahren hineingegangen - und wurde zur Zeugin gemacht. Damit wurde ich dann nicht mehr beachtet. Der Pfarrer erhielt eine Strafe. Ich habe nichts davon und mich hat das Verfahren in den fünf Jahren viel Kraft gekostet – bis hin zu Retraumatisierungen. Im Zivilrecht kann ich eine Nebenklage stellen, aber im Kirchenrecht kann ich das nicht.

Laut kirchlicher Musterordnung soll künftig ein Schmerzensgeld zwischen 5.000 und 50.000 gezahlt werden. Wie kann man sexualisierte Gewalt überhaupt bewerten und beziffern?

Laufbacher: Natürlich ist es wahnsinnig schwer, das zu bewerten. Aber es muss möglich sein, ein Stück Gerechtigkeit herzustellen und die anhaltenden Gewaltfolgen zu berücksichtigen. Es ist schwierig, die Betroffenen wirklich gerecht und fair zu behandeln. Das weiß auch jeder, der daran arbeitet und der darüber zu entscheiden hat. Gut ist es, wenn die Betroffenen am Ende zufrieden sind.

Es gab einen Betroffenenbeirat, der im Mai 2021 ausgesetzt wurde. Wie geht es da weiter?

Laufbacher: Die Gründe für das Aussetzen waren eine Mischung aus ganz vielen Faktoren. Aber die Idee ist schon, dass die Arbeit irgendwann in einer anderen Form fortgesetzt wird. Das ist eine Suchbewegung, die da gerade stattfindet. Und im Hintergrund geht die Arbeit Betroffener für Betroffene auf EKD-Ebene weiter.

Missbrauch in der Evangelischen Kirche

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- Missbrauch in der evangelischen Kirche ist kein Einzelfall. Kris Laufbacher erzählt ihre Geschichte - und erklärt, wie sie heute damit lebt. Ein Protokoll.

- Eine bundesweite Studie will das Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie aufarbeiten. Derzeit werden Betroffene gesucht, die ihre Erfahrungen schildern.