Die Corona-Pandemie hat den Schulalltag nicht nur wegen der Abstandsregeln und der Maskenpflicht verändert. Spuren hinterlässt sie auch beim Thema Religionsunterricht: Ein "Werteunterricht" taucht als mögliche Notlösung auf - aus pragmatischen Gründen des Infektionsschutzes.

Denn während vor allem an Grundschulen im normalen Unterricht streng der Klassenverband eingehalten wird, sitzen in Religion und Ethik auch jetzt Schüler aus mehreren Klassen beisammen. Dagegen haben zum Schuljahresbeginn verschiedene Seiten aufbegehrt, wie Beispiele aus Fürth und Puchheim bei München beleuchten.

Die Schulen im Freistaat müssen sich mit Hygienekonzepten so organisieren, dass Schüler verschiedener Klassen unter sich bleiben, auch in den Pausen. Das ist Organisationsaufwand und für viele Kinder sowie Lehrer unerquicklich - hat aber einen guten Grund: Tritt irgendwo eine Corona-Infektion auf, müsste nur die betroffene Klasse in Quarantäne und nicht gleich mehrere Klassen. Doch in Religion und Ethik kommen evangelische, katholische sowie andersgläubige und bekenntnislose Kinder zusammen. Von März bis Juli war Reli-Unterricht deshalb gar nicht möglich.

"Worst case" in Olching

In Olching bei München ist der "worst case" bereits eingetreten: Nachdem ein Zweitklässler positiv getestet worden war, musste ein Dutzend Kinder aus zwei Klassen in Quarantäne, die gemeinsam den katholischen Religionsunterricht besuchen, sagt Schulleiterin Elisabeth Krause. Auch an der Realschule Dachau mussten Schüler aus zwei Klassen zugleich in Quarantäne - wegen des Religionsunterrichts.

Um dieses Risiko zu minimieren, erschien plötzlich eine Idee: ein gemeinsamer "Werteunterricht" statt getrenntem Fachunterricht. Kultusministerium und bayerischer evangelischer Landeskirche liegen nach deren Angaben mehrere solcher Anfragen von Schulen vor.

Zwang, etwas anderes als evangelische Religion zu unterrichten

Im Dekanat Fürth forderte der Leiter des Schulreferats im Dekanatsbezirk Fürth, Pfarrer Reinhard Seeger, jetzt in einem Brief die Schulämter in der Stadt und im Landkreis Fürth auf, den gesetzlich verankerten Religionsunterricht sicherzustellen. Nachdem Beschwerden von Eltern und Lehrern eingetroffen waren, sahen sich Seeger und die Fürther Dekane zum Handeln gezwungen. In ihrem Schreiben an Schulamtsleiterin Ulrike Merkel wurde an die Notwendigkeit einer strikten Beachtung der positiven und negativen Religionsfreiheit aller am Unterricht beteiligten Personen erinnert.

"Es wurde darauf hingewiesen, dass evangelische Religionslehrer nicht gezwungen werden können, etwas anderes als evangelische Religionslehre zu unterrichten", so Seeger gegenüber dem Sonntagsblatt.

Ein Pfarrer berichtete, dass die Leitung seiner Grundschule den konfessionellen Unterricht ausgesetzt hatte und stattdessen die Religionslehrer anhielt, für alle Schüler einen "weltanschaulich neutralen" Unterricht zu geben. Die Maßnahme sei mit dem besseren Infektionsschutz begründet worden und solle mindestens bis zu den Herbstferien gelten. Er und andere Kollegen hätten davon in der Lehrerkonferenz am Tag vor Schulbeginn erfahren. Die Schulamtsleiterin war zu keiner Stellungnahme bereit.

Verwässerung des Stundenplans

"An etlichen Schulen wurde nicht im vorherigen Einvernehmen aller Beteiligten gehandelt. Ebenso können Erziehungsberechtigte nicht gezwungen werden, der Teilnahme ihrer Kinder an einem ihren Glaubensüberzeugungen widersprechenden Unterricht zuzustimmen", so Seeger weiter. Des Weiteren wurde zu bedenken gegeben, dass mancherorts kommuniziert werde, der Religionsunterricht sei an Schulen abgeschafft worden. Hier sei "kommunikative Deutlichkeit" angemahnt worden und das Schulamt gebeten, die Schulleitungen dahingehend aufzuklären, dass "curriculare Vorgaben nicht verwässert werden dürften, wenn der Religionsunterricht in einigen Lerngruppen in Kooperation mit anderen Fachschaften angeboten wird."

 

Es wurde darauf hingewiesen, dass es vielen Schulen gelungen war, auch unter den erschwerten Bedingungen einen regulären konfessionellen Religionsunterricht anzubieten. Daher habe man darum gebeten, die Schulleitungen bei der weiteren Bildung konfessioneller Religionsgruppen zu unterstützen, wo verantwortbare und intelligente Lösungen möglich sind. Seeger geht allerdings davon aus, dass weitere Interventionen zur Gestaltung des Religionsunterrichts in der Pandemie nötig sein werden.

Veto des Kultusministeriums

Im oberbayerischen Puchheim lief es andersherum: In der Grundschule am Gerner Platz arbeiteten Lehrkräfte einen klasseninternen "Werteunterricht" aus. Sie hätten sich die Lehrpläne für Reli und Ethik angeschaut und die wichtigsten Themen herausgesucht unter dem Gesichtspunkt der Werteerziehung, sagte Rektorin Ruth Frank-Amberger laut Medienberichten. Das Kultusministerium untersagte die Umsetzung. Die Rektorin steht für Auskünfte an Journalisten seitdem nicht mehr zur Verfügung. Religion und Ethik finden nun ganz normal statt, der Hygieneplan wird laut Schulamt eingehalten.

Das Kultusministerium hält jedenfalls am Religionsunterricht fest. Die Konfessionalität gehöre zum Kern des Grundgesetzes, teilt ein Sprecher mit. Darauf seien die Schulen bereits im Juli hingewiesen worden und auch darauf, dass "davon abweichende, nicht autorisierte Formen" wie etwa Wertekunde nicht verfassungskonform seien. Zudem heißt es im "Rahmenhygieneplan" lediglich, dass eine Durchmischung "im Rahmen der Möglichkeiten" zu vermeiden sei und dann, wenn es "schulorganisatorische Gründe" nicht erfordern - dies täten sie aber im Religionsunterricht. Bei klassenübergreifendem Unterricht sei auf eine "blockweise Sitzordnung der Teilgruppen" zu achten; der Mindestabstand gilt nur bei jahrgangsübergreifendem Unterricht.

Kirche lehnt Werteunterricht ab

Auch die evangelische Landeskirche lehnt einen "Werteunterricht" ab. Den Fall Puchheim bewertet sie als "eine Folge der Corona-Krise, wo unterschiedliche Vorstellungen von Religionsunterricht in Konflikt liegen und vermeintlich schnelle Lösungen nicht immer die besten sind", sagt ein Sprecher. Ein "Werteunterricht" sei inhaltlich nicht näher bestimmt; vielmehr benenne das bayerische Unterrichtsgesetz gewisse Wertvorstellungen als Bildungsziele, die in jedem Fach zu verwirklichen seien.

Religionslehre dagegen diene der religiösen Bildung: "Das eigene Leben vor dem Hintergrund der liebenden Zuwendung Gottes zu reflektieren geht zwar mit einer Wertebildung einher, erschöpft sich aber nicht in dieser", so der Sprecher. Gerade in der Corona-Krise biete der Reli-Unterricht "die Zeit und den Ort, eigene Erfahrungen zu reflektieren". Doch die Landeskirche nehme die Ängste und Sorgen der Eltern "sehr ernst", deswegen gebe es aktuell auch Gespräche mit katholischer Kirche und Kultusministerium.

Auch das Katholische Schulkommissariat lehnt "einen Werteunterricht als eigenes Unterrichtsfach, das den Religionsunterricht abschafft", ab. Dieser sei nicht verfassungskonform, sagt ein Sprecher des Erzbistums München-Freising. In Fürth sahen sich Reinhard Seeger, der evangelische Schulbeauftragte, und die drei Dekane zum Handeln gezwungen. In einem Schreiben ans Schulamt erinnerten sie an die Notwendigkeit, die positive und negative Religionsfreiheit strikt zu beachten. Sie wiesen darauf hin, "dass evangelische Religionslehrer nicht gezwungen werden können", etwas anderes zu unterrichten.

Bedarf während des Lockdowns

Unter Religionslehrern macht die Schweinfurter Religionspädagogin Ilse Strebel-Vogtmann unterschiedliche Positionen aus. "Konfessioneller Unterricht vermittelt den Schülern eine 'evangelische Sicht' auf ethische Themen", sagt sie. Deshalb hätten im vergangenen Schuljahr einige Kollegen darauf bestanden. Andererseits seien viele Religionslehrer in der Notbetreuung eingesetzt worden: "Die wollten dann lieber Werteunterricht geben - weil viele junge Menschen gerade während des Lockdowns Bedarf an einem solchen Unterricht hatten."

Religionsunterricht im Grundgesetz verankert

Matthias Tilgner, Leiter des Referats "Erziehung, Bildung, Unterricht" am Landeskirchenamt der ELKB erklärt, dass ein für alle Geisteshaltungen unverfänglicher Unterricht für längere Zeit oder gar das ganze Schuljahr einen Verstoß gegen die Vorgaben des Kultusministeriums darstelle. Der Religionsunterricht sei rechtlich durch Art. 7 Abs. 3 GG begründet, in dem formuliert wird, dass er an öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach ist.

Während alle anderen Fächer unter Aufsicht des Staates stehen und von diesem organisiert werden, liegt allein beim Religionsunterricht eine sog. "res mixta" vor: Er wird vom Staat im Rahmen der schulischen Bildung organisiert, steht aber unter Aufsicht der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese Sonderstellung ist hinsichtlich der Frage bedeutsam, da deutlich wird, dass Staat und Kirchen gemeinsam je auf ihre Weise Verantwortung für den Religionsunterricht tragen. Weder könne der Staat hier ohne Zustimmung der Kirche agieren noch umgekehrt. Daher könne es in Bayern auch angesichts der Corona-Pandemie keinen "christlichen Werteunterricht" geben.

Dieser dürfe nur in Übereinkunft mit den Kirchen eingerichtet werden. "Weder ist das Kultusministerium auf uns mit einer solchen Frage zugekommen noch umgekehrt", meint Tilgner. Lediglich eine Form , in der evangelische und katholische Schüler gemeinsam beschult werden können, bestehe seit dem Schuljahr 2019/20 im Moment im sogenannten "konfessioneller Religionsunterricht mit konfessioneller Kooperation".

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