Dabei hätten sich die Protestanten selbst 20 Jahre nach Kriegsende gar nicht getraut, eine Kirche auf der Gedenkstätte zu bauen. Zu groß war die Scham über das weitgehende Versagen der Amtskirche im Nationalsozialismus. Die bayerische Landeskirche dachte Anfang der 1960er-Jahre, als die Gedenkstätte in Planung war, zunächst nur an ein schlichtes Sühnekreuz als Ort des Innehaltens.
Dass daraus ein Gotteshaus mit Kirche und Gesprächsraum wurde, war selbst schon ein Akt der Versöhnung. Eine Gruppe niederländischer Dachau-Überlebender um den Widerstandskämpfer Dirk de Loos ging auf die EKD zu. Ihr Wunsch: Ein Ort der Besinnung, geschützt vor Regen und Kälte, an dem Begegnung möglich war.
Also schrieb die EKD 1964 einen Architekten-Wettbewerb für eine Sühnekirche aus, den der junge Mannheimer Architekt Helmut Striffler mit seinem spektakulären Entwurf für sich entschied. Am 30. April 1967 übergab der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf die Schlüssel an den damaligen bayerischen Landesbischof Hermann Dietzfelbinger. Mit dem Bau wolle man »Verbundenheit mit allen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeugen«, so Scharf. Die erste Predigt hielt der Dachau-Überlebende Martin Niemöller.
Glück hatte die Versöhnungskirche nicht nur mit ihrem Architekten Helmut Striffler, der ihr eine zeitlos wirksame Gestalt gab, sondern auch mit ihren Pfarrern und Diakonen.
Herbert Römpp machte 1967 als erster fester Mitarbeiter den schwierigen Anfang. Der junge Diakon knüpfte Kontakte zu den KZ-Überlebenden, die im Museum der Gedenkstätte arbeiteten, und bot Führungen für Schulklassen an – bis heute ein Kernstück der evangelischen Arbeit in Dachau.
Doch Römpp arbeitete nicht nur in der Versöhnungskirche, er wohnte auch dort, in den heutigen Büroräumen. »Ich habe das damals nicht als emotionale Belastung empfunden«, erinnert sich der heute 77-Jährige. Als idealistischer junger Mann habe er einen sinnvollen Beitrag zum Frieden leisten wollen. Ihm sei klar gewesen, dass er mit der Versöhnungsarbeit in Dachau in seinen zwei Dienstjahren nicht fertig werden würde. »Ich habe halt damit angefangen«, sagt er lakonisch.
Es war wohl diese Unbefangenheit eines damals 27-Jährigen, der selbst von Kriegserlebnissen verschont geblieben war, die die Quadratur des Kreises möglich machte: Das Leid von Hinterbliebenen, die Horrorgeschichten von Überlebenden prallten in Dachau ungebremst auf den Verdrängungsreflex der Gesellschaft und die Holocaust-Leugnungen von Altnazis und Mitläufern. »Ich war konfrontiert mit dem Leben nach dem Holocaust mit all der Traurigkeit, dem Mitleid, der Hoffnung und Ignoranz, derer Menschen fähig sind«, fasst Römpp seine Zeit in Dachau zusammen.
Mit den Pfarrern Christian Reger und Hans Ludwig Wagner folgten bis 1984 zwei Männer, die selbst Opfer der Nazis geworden waren und den schwierigen Anfängen der Erinnerungsarbeit eine natürliche Autorität verliehen: Reger erlitt als Häftling Nummer 26661 im »Pfaffenblock« von Dachau vier Jahre lang den Terror des Konzentrationslagers; Wagner floh, als »Volljude« eingestuft, 1938 nach Kanada. Christian Reger wohnte während der Sommermonate ebenfalls in der Kirche und legte den Grundstein für das noch heute vertrauensvolle Verhältnis zum Kloster Karmel: Jeden Tag nahm er an den Gebets- und Mahlzeiten der Schwestern teil. Wagner wiederum etablierte 1982 den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst und rückte die vergessenen NS-Verfolgten in den Blick: Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten.
Von 1985 bis 2003 bekam die Versöhnungskirche Vollblut-Seelsorger: Waldemar Pisarski, Heinrich Bauer und Peter Klentzan begleiteten die wachsende Zahl an Besuchern, scheuten keine politische Auseinandersetzung und ermutigten Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Walter Joelsen, ihr Schicksal zu erzählen.
Pisarski trat 1985 die nun regulär von der bayerischen Landeskirche eingerichtete Pfarrstelle in der Versöhnungskirche an – die ELKB trägt die Personalkosten, während die EKD Bau- und Sachkosten übernimmt. Pisarskis Zeit war geprägt von Auseinandersetzungen mit der Stadtspitze von Dachau, die die Gedenkstättenarbeit ablehnte.
Auch die Staatsregierung wollte von Dachau nichts wissen: »Unter Strauß durfte kein Kabinettsmitglied in die Gedenkstätte kommen«, erinnert sich Pisarski. Dennoch gelang es ihm, den damaligen Kultusminister Hans Maier für einen Besuch der Versöhnungskirche zu gewinnen: als Organist in einem Orgelkonzert.
Max Mannheimer und das erste Zeitzeugengespräch
Und noch jemand folgte dem Bitten des evangelischen Seelsorgers: Max Mannheimer, dessen Name untrennbar mit der Erinnerungsarbeit verbunden ist, ließ sich von Waldemar Pisarski zu seinem ersten Zeitzeugengespräch überreden. »Er hatte zwei Tabletten Valium genommen, um überhaupt sprechen zu können, und mir seine Erinnerungen schriftlich gegeben, falls er den Raum verlassen musste«, erinnert sich der Pfarrer.
Noch heute ist Pisarski »ewig dankbar« für das ungeheure Privileg, so viele Holocaust- und KZ-Überlebende kennenlernen zu dürfen. Zugleich machten dem erfahrenen Krankenhaus-Seelsorger die täglichen Geschichten von Leid und Qual zu schaffen. »Ich konnte nicht viel mehr tun, als meine Seele hinhalten«, beschreibt er die Herausforderung. Nach sechs Jahren bat Pisarski darum, die Stelle wechseln zu dürfen.
Ein Markenzeichen der Versöhnungskirche war und ist es, unbequem zu sein. Beim Hungerstreik der Sinti 1980 gewährte sie den zwölf protestierenden Männern Asyl. Auch der »Rosa Winkel«, das damals auf der Gedenkstätte unerwünschte Mahnmal für die homosexuellen NS-Opfer, fand hier von 1988 bis 1995 einen Standort. 1993 gewährte die Kirche bei der »Romazuflucht« rund 400 ausreisepflichtigen Menschen aus Ex-Jugoslawien vorübergehenden Schutz. Die Erfahrungen dieses Asyls bewegten Diakon Peter Klentzan nach seiner Dachau-Zeit, die heutige Stiftung »Wings of Hope« zu gründen, die in Krisenregionen wie Bosnien, Palästina und dem Irak Trauma- und Friedensarbeit leistet.
Auch die Gegenwart hat ihre Herausforderungen: Es gibt immer weniger NS-Überlebende, die Erinnerungsarbeit brauchte ein neues Konzept. Und so haben der Pfarrer und promovierte Historiker Björn Mensing und Diakon Klaus Schultz ihre Arbeit verbreitert. Sie pflegen enge Kontakte zu den verbliebenen Zeitzeugen und deren Angehörigen, fördern in Kooperation mit dem Gedächtnisbuch-Projekt »Namen statt Nummern« immer aufs Neue vergessene Häftlingsbiografien zu Tage und führen Jahr für Jahr rund 7000 Besucher über das Gelände.
Dank ihrer guten Netzwerke stemmt das selbstbewusste Kollegen-Paar jedes Jahr, unterstützt von zwei Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, ein umfangreiches Programm vom Zeitzeugengespräch über Ausstellungen bis zu Theaterprojekten und Konzertlesungen. Dass die Versöhnungskirche nicht nur Mahnmal, sondern auch Versammlungsraum ist, zahlt sich bis heute aus: Allein 2016 besuchten über 4000 Besucher 47 Veranstaltungen – die Gottesdienste und Andachten nicht mitgerechnet.
Doch die Erinnerungsarbeiter strecken ihre Antennen auch weit in die Gegenwart und Zukunft. Sie sind Partner beim Runden Tisch gegen Rassismus der Stadt Dachau, kooperieren mit Stiftungen, Vereinen und Projekten, beackern tagespolitische Themen wie die NSU-Morde und tragen das Gedenken mit dem Fußball-Fanprojekt der Initiative »Nie wieder!« sogar bis in die Bundesligastadien. »Damit hebt sich die Versöhnungskirche von der Arbeit der staatlichen Gedenkstätte ab, die sich mehr auf die NS-Zeit konzentriert«, sagt Mensing.
Wer wie Mensing und Schultz seit Jahren in der KZ-Gedenkstätte arbeitet, weiß, wie schmal der Grat sein kann, der das Leben von der Hölle trennt. Deshalb gehören für sie Erinnerungsarbeit und Tagespolitik untrennbar zusammen. »Indem wir an die Menschen erinnern, die damals ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden, richten wir automatisch den Blick auf die Ausgegrenzten, Diskriminierten und Verfolgten der Gegenwart«, sagt Kirchenrat Mensing. Das Vermächtnis des »Nie wieder!« habe sich nicht erfüllt. Der Blick auf die Völker- und Massenmorde der letzten Jahre genüge.
Der Auftrag der Versöhnungskirche ist 2017 so aktuell wie 1967.