Die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin offenbart ein Zusammenspiel, das wir in dieser Konstellation bislang eher aus den USA kannten. Eine juristisch differenzierte Haltung zu Abtreibung wird politisch skandalisiert, öffentlich moralisch geächtet und schließlich – auch unter Mithilfe kirchlicher Autoritäten – delegitimiert.

Dass rechte Plattformen gegen Brosius-Gersdorf mobilisieren, war zu erwarten. Dass Teile der CDU/CSU-Fraktion darauf anspringen, ist enttäuschend, aber leider auch nicht neu.

Wenn sich jedoch auch katholische Bischöfe in diese orchestrierte Aufregung einreihen, wird eine Grenze überschritten, die für das Miteinander von Kirche und Staat in einer demokratischen Gesellschaft gefährlich ist.

Wenn der Bamberger Erzbischof Gössl nun in seiner Predigt zum Heinrichsfest von einem "Abgrund der Intoleranz” spricht und damit ausgerechnet Brosius-Gersdorf meint, stellt er die Tatsachen auf den Kopf.

Update: Inzwischen hat der Bischof sich von seiner Kritik distanziert und erklärt, er sei falsch informiert gewesen.

Fatale Vermischung theologischer Überzeugungen mit Machtspielen

Mit Brosius-Gersdorfs Positionen zum Abtreibungsrecht muss man nicht übereinstimmen. Aber man sollte sie zumindest korrekt wiedergeben. In ihrem Gutachten plädiert die Juristin für eine stärkere verfassungsrechtliche Berücksichtigung der Selbstbestimmung der Frau und gleichzeitig für ein gestuftes Lebensschutzmodell, das den Embryo keineswegs rechtlos stellt.

Wer die Berufung einer qualifizierten Staatsrechtlerin zum "innenpolitischen Skandal” hochstilisiert, nur weil sie sachlich und juristisch argumentiert, und ihr dabei gleich auch noch "Menschenverachtung” unterstellt, der trägt nicht zur Aufklärung oder zum Lebensschutz bei, sondern zur Spaltung.

Der Impuls, die Schwächsten zu schützen, wird von Teilen der Kirche in ein rigides Freund-Feind-Denken überführt. Doch eine Gesellschaft, in der das moralische Urteil einzelner Kirchenvertreter über Recht, Gesetz und demokratische Verfahren gestellt würde, wäre keine freie Gesellschaft mehr.

Es ist eine fatale Vermischung theologischer Überzeugungen mit politischen Machtspielchen. Wer das ethisch hochkomplexe Thema des Schwangerschaftsabbruchs als Lackmustest für "Verantwortung vor Gott” inszeniert, nimmt sich selbst aus jeder demokratischen Auseinandersetzung heraus. Und lässt keinen Raum mehr für Ambivalenz, Zweifel oder Nuancen.

Evangelische Kirche hebt nicht den Zeigefinger

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, was nicht passiert ist: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sich an dieser Kampagne nicht beteiligt. Sie hat keinen moralischen Zeigefinger erhoben, keine politischen Forderungen gestellt und keine öffentliche Stellungnahme gegen die Kandidatin abgegeben. Und das ist gut so.

Denn evangelisches Denken kennt den Zweifel. Es kennt die Spannung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Und es weiß: Im säkularen Staat ist die Aufgabe der Kirche nicht, den demokratischen Diskurs zu dominieren, sondern ihn mitzutragen und zu bereichern – mit Argumenten, Haltung und Demut.

Was wir gerade erleben, ist eine gefährliche Verschiebung der Koordinaten. Das Thema Abtreibung wird zur Chiffre für eine Kulturkampf-Rhetorik, in der sich rechte Kreise, christliche Fundamentalist*innen und konservative Moralhüter*innen vereinen – gegen das Recht, gegen Frauen und gegen jegliche Differenzierung.

Demokratische Rechtsstaatlichkeit braucht auch religiöse Zurückhaltung. Sie braucht Kirchen, die nicht die Wahrheit für sich gepachtet haben, sondern Raum für Meinungsvielfalt lassen, für wissenschaftliche und juristische Argumente – und für die Würde des anderen, auch wenn man seine Haltung nicht teilt.

Kommentare

VOIT-Orgel am So, 20.07.2025 - 11:31 Link

Antwort auf "Es_DON": wie hätte sich Christus , unser Herr und Gott, wohl zu den unsäglichen, durch nichts zu rechtfertigenden Hetzkampagnen gegen Frauke Brosius-Gersdorf geäußert??? dr.friedrich schreyer, dipl.-chem.

Florian Meier am Don, 24.07.2025 - 04:05 Link

Wenig überrascht wahrscheinlich. Fast alle seine Jünger sind eines gewaltvollen Todes gestorben, obwohl sie nichts Böses taten sondern nur predigten. Menschliche Abgründe und Aufwiegelung negativer Emotionen sind ihm jedenfalls sehr vertraut.

VOIT-Orgel am So, 20.07.2025 - 11:10 Link

TAZ: "Von Sabine am Orde
Berlin taz | Am 10. Juni 2015 hat die CDU-Fraktion im sächsischen Landtag eine Pressemitteilung verschickt, in der sie freudig die Neuwahl von zwei neuen Richtern und vier neuen Stell­ver­tre­te­r*in­nen für den Verfassungsgerichtshof des Landes verkündet. Eine der vier Stell­ver­tre­ter*in­nen ist die Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf. Jene angesehene Staatsrechsprofessorin also, die ein Teil der Union im Bundestag trotz vorheriger Zusage ihrer Führung jetzt doch nicht zur Bundesverfassungsrichterin wählen will.

Im Dresdener Landtag erhielt sie laut CDU damals 94 Prozent der Stimmen, es war das beste Ergebnis der sechs Kandidat*innen. Brosius-Gersdorf wurde von den Grünen vorgeschlagen, die CDU hat für sie gestimmt. „Das einzige Bedenken, das die CDU damals hatte, war, dass Frauke Brosius-Gersdorf nicht aus Ostdeutschland stammt“, erinnert sich die grüne Landtagsabgeordnete Katja Meier, die zuletzt sächsische Justizministerin war. „Und natürlich war der CDU bekannt, dass sie etwas progressiver ist als andere Kandidaten.“

Stell­ver­tre­te­r*in­nen kommen am Verfassungsgerichtshof zum Zug, wenn Rich­te­r*in­nen ausfallen. Neun Jahre lang, von 2015 bis 2024, war Brosius-Gersdorf stellvertretendes Mitglied des höchsten sächsischen Gerichts. Es habe keinerlei Kritik an ihr gegeben, erinnert sich Meier. „Ich habe nie etwas Negatives gehört.“

Sie habe große Sorge, dass durch die aktuelle Entwicklung das Bundesverfassungsgericht und auch seine künftigen Urteile diskreditiert werden, so Meier. „Es ist absolut unwürdig, wie da gerade eine hochangesehene Staatsrechtlerin diskreditiert wird.“

Die Dynamik habe ihn überfordert, sagt Carsten Körber, CDU-Abgeordneter aus Sachsen
Für die sächsischen Bundestagsabgeordneten scheint die positive Erfahrung mit Brosius-Gersdorf am Verfassungsgerichtshof in Dresden in der aktuellen Diskussion keine Rolle zu spielen. „Ich kannte sie auch als Sachse gar nicht“, sagte Carsten Körber, Bundestagsabgeordneter der CDU aus Zwickau, der taz. Körber, gläubiger evangelischer Christ, der auch Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe ist, räumt ein, froh gewesen zu sein, dass die Wahl der drei neuen Bundesverfassungsrichter am letzten Sitzungstag des Parlaments von der Tagesordnung genommen worden sei.

„Ich hätte nicht gewusst, wie ich abstimmen soll.“ Die Dynamik, die die Debatte innerhalb weniger Tage genommen habe, habe ihn überfordert. „Ich habe über 300 Mails bekommen, diese Frau nicht zu wählen. Gleichlautende Schreiben, aber auch individuelle Gedanken. So etwas habe ich noch nicht erlebt.“

Seine Lehre für die Zukunft: „Wir sollten die Richterwahlen wieder aus dem Plenum nehmen und zurück in den Richterwahlausschuss geben, der wie früher final entscheidet.“ Bis 2015 hat ausschließlich der 12-köpfige Richterwahlausschuss des Bundestags die Ver­fas­sungs­rich­te­r*in­nen gewählt. Seitdem ist das nur noch ein Vorverfahren, die letztliche Entscheidung findet im Bundestagsplenum statt. Körber: „Die Reform war gut gemeint, hat Polarisierung und Politisierung der Richterwahl aber Tür und Tor geöffnet.“

Victoria Lieberum am So, 20.07.2025 - 10:37 Link

Ich finde Ihren Kommentar wenig differenzierend, denn Sie stellen alle, die bei dieser Wahl Bedenken haben, in die rechte Ecke (was nur stimmt, wenn man Frau Brosius-Gersdorf als „Mitte“ verortet, was eben umstritten ist und auch sein darf!) , vergleichen sie darum gleich mit Trump-Anhängern. Vielleicht hat sich aber doch gerade aus dem fassungslosen Blick auf die derzeitige Situation in den USA ein neues Gefühl dafür entwickelt, wie wichtig die Wahl eines Verfassungsrichters ist, so dass sie mehr Aufmerksamkeit bekommt in den Jahren zuvor, was aber für eine lebendige Demokratie ein gutes Zeichen ist?! Protestantische Selbstgerechtigkeit (Motto „Die dummen Katholiken sind rechten Aktivisten aufgesessen, wir sind die wahren Demokraten!“) ist verletzend und töricht.
Die Frage eines Schwangerschaftsabbruches kann letztlich weder juristisch noch theologisch eindeutig beantwortet werden, ohne dass eine gewisse Schuld akzeptiert wird. Entweder die Frau zahlt einen heftigen Preis oder das Kind zahlt mit seinem Leben. Es gilt abzuwägen. Die derzeitige Gesetzgebung entspricht aus der Sicht vieler Bürger (teils gläubig, teils tatsächlich @einfach nur konservativ“, aber damit eben nicht automatisch undemokratisch!) diesem nicht schuldfrei zu lösenden Konflikt. Selbstbestimmung der Frau ist ein hohes Gut, aber nicht das einzige, das zählt.
Die Kandidatin hat sich ganz offensichtlich zumindest missverständlich geäußert. Politische Aktivisten sind für solche Posten nicht geeignet. Wenn sie sich im Vorfeld selbst falsch dargestellt hat, darf sie Nachfragen nicht als persönlich Angriffe missinterpretieren.

PeterG am So, 20.07.2025 - 08:04 Link

Herr Marquardt hat meines Erachtens das eigentliche Problem nicht erkannt. Frau Brosius-Gersdorf spricht tatsächlich dem Fötus nicht das Lebensrecht ab. Aber sie stellt in ihren Dokumenten die Menschenwürde für Ungeborene infrage. So wie ich unser GG verstehe, leitet sich das Lebensrecht und alle anderen Rechte von der Menschenwürde ab.

ES am Don, 17.07.2025 - 07:35 Link

Hauptsache, die EKD bezieht deutlich Position zu Klima und Migration (siehe u.a. www.ekd.de). Was interessiert uns da schon das ungeborene Leben? Ironie off. Dabei müsste die EKD (und jeder Christ) sich immer fragen: "Was wäre die Position von Jesus Christus dazu?" und diese Position dann bei wichtige Fragen deutlich hörbar vertreten. Bei dem Thema "Schutz des ungeborenen Lebens" steht diese Position dann aber wohl leider im Widerspruch zum links-grünen Milieu und deswegen schweigt die EKD lieber. Das finde ich (vorsichtig formuliert) bitter.

Mit freundlichen Grüßen
Ein weiterer Protestant, der sich für das Schweigen seiner Kirche schämt.

P.S.: Danke an Claus_Schroeder für seinen Kommentar unten, der mir aus der Seele spricht und das wiedergibt, was ich unabhängig davon heute schreiben wollte.

Gast (nicht überprüft) am Di, 15.07.2025 - 23:49 Link

Lieber Herr Marquart,

Sie loben meine Kirche dafür, dass sie zum Lebensschutz schweigt. Als evangelischer Christ finde ich das beschämend.

Sie konstruieren einen Gegensatz zwischen „rigiden“ Katholiken und „zweifelnden“ Protestanten. Dabei übersehen Sie, dass auch evangelisches Denken Gewissheiten kennt. Der Schutz des Lebens gehört dazu. Dietrich Bonhoeffer schrieb unmissverständlich: „Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. (…) Das aber ist nichts anderes als Mord.“ (Ethik, DBW 6, S. 203–204).

Ihre Logik ist verdreht: Wer einen mühsam errungenen Kompromiss verteidigt, soll „Kulturkampf“ betreiben. Wer ihn aufkündigen will, argumentiert angeblich „differenziert“. Dabei ist Brosius-Gersdorfs Modell kein bloßes Abwägen, sondern ein klarer Schritt zur weiteren Aushöhlung des Lebensschutzes.

Dass die EKD dazu schweigt, feiern Sie als demokratische Tugend. Tatsächlich ist es feige Anbiederung an den Zeitgeist. Dieselbe Kirche, die in Synoden Resolutionen zu Klimaneutralität, Tempolimit oder Migration verabschiedet, kneift beim Schutz des ungeborenen Lebens, aus Angst, moralisch anzuecken.

Demokratie braucht keine Kirchen, die nur dann reden, wenn es ungefährlich ist. Sie braucht Institutionen mit Rückgrat, auch wenn das unbequem wird.

Ihr Ruf nach „religiöser Zurückhaltung“ ist in Wahrheit ein Maulkorb für alles, was nicht in den moralischen Mainstream passt. Wenn das evangelisch sein soll, haben Sie das Evangelium nicht verstanden.

Mit freundlichen Grüßen
Ein Protestant, der sich für das Schweigen seiner Kirche schämt.

Oliver Marquart am Mi, 16.07.2025 - 10:45 Link

Die evangelische Kirche hat den Wert des Lebens und dessen Schutz stets betont. Sie hat sich jedoch – aus welchen Gründen auch immer, ich hoffe, aus Vernunft, Sie vermuten Angst – nicht an einer Kampagne gegen eine designierte Verfassungsrichterin beteiligt, die in ihrem Amt den im Grundgesetz garantierten Lebensschutz mit dem ebenfalls garantierten Grundsatz der Menschenwürde abwägen muss.

Selbstverständlich soll jede religiöse Institution zu ihren Grundsätzen stehen. In einem demokratischen Staat muss sie aber gleichzeitig aushalten, dass Juristen an die Verfassung und nicht an die Bibel gebunden sind.

Gast (nicht überprüft) am Mi, 16.07.2025 - 11:21 Link

Lieber Herr Marquart,

Ihre Unterscheidung zwischen „Grundsätzen“ und „Kampagnen“ ist sophistisch. Dieselbe EKD, die bei Seenotrettung, Klimawandel und Tempolimit unermüdlich klare Kante zeigt, schweigt beim Lebensschutz — aus „Vernunft“? Das ist keine demokratische Tugend, sondern selektive Courage.

Vollends absurd wird es, wenn Sie Lebensschutz und Menschenwürde gegeneinander ausspielen. Als ob die Würde der Mutter durch das Leben des Kindes bedroht würde, statt dass beides zusammengehört. Diese „Abwägung“ konstruiert einen Nullsummenkonflikt, wo es keinen geben muss.

Ja, Juristen sind an die Verfassung gebunden. Aber wer interpretiert sie? Verfassungsrichterinnen und -richter sind keine Subsumtionsautomaten, sondern treffen Wertentscheidungen. Und diese Werte fallen nicht vom Himmel, sie entstehen im gesellschaftlichen Diskurs, den auch Kirchen prägen sollen.

Ihre „demokratische Zurückhaltung“ ist in Wahrheit Kapitulation vor dem Zeitgeist. Eine Kirche, die nur dann redet, wenn es risikofrei ist, hat ihren Auftrag längst verspielt.

Mit freundlichen Grüßen
Ein Protestant, der Mut von Opportunismus zu unterscheiden weiß

Oliver Marquart am Mi, 16.07.2025 - 12:25 Link

Meine Unterscheidung zwischen Grundsatzpositionen und politisch zugespitzten Kampagnen zielt nicht auf Sophistik, sondern auf die Verantwortung, mit der sich Kirchen in pluralen Gesellschaften positionieren. Ethische Orientierung bedeutet nicht, in jedem Konflikt mit voller Lautstärke aufzutreten – sondern sorgfältig zu prüfen, wie komplexe Abwägungen öffentlich verantwortet werden können.

Gerade beim Thema Lebensschutz ist diese Komplexität gegeben: Die Würde des ungeborenen Kindes ist zentral – ebenso die der schwangeren Frau. Es geht nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein verantwortliches Austarieren beider Seiten. Pauschale und vereinfachende Urteile helfen da wenig. 

heraklit am Di, 15.07.2025 - 12:50 Link

Die Süddeutsche behauptet gerade auf https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/jens-spahn-cdu-bro…: "Die Welle wurde immer größer, angefeuert nicht nur von den Kirchen [sic], sondern auch von Rechts-außen-Portalen im Netz." Da sollten Sie mal eine Gegendarstellung verlangen.
Dann verstehe ich nicht, wie man in der Abtreibungsfrage permanent die einzige Stelle in der Bibel ignorieren kann, die zu dem Thema überhaupt etwas hergibt (mal beiseite gelassen, dass die Bibel für einen Schleiermacher-geschulten Mainstream-Protestanten natürlich nicht das Buch ist, das man zu diesem Thema heranzieht - solche Leute scheints in den C-Parteien allerdings nicht zu geben, s. jüngst Klöckner zu Aufgaben der Kirche), sc. Ex. 21,22f.: Wenn bei einer Klopperei eine dabei stehende Schwangere so getroffen wird, dass sie eine Fehlgeburt erleidet (merkwürdig konstruiertes Beispiel, aber egal), gibts Geldstrafe, wenn der Schwangeren selbst was passiert, gilt Talionsprinzip, Leben für Leben, Auge um Auge ...
hier wird der Wert des ungeborenen Lebens eindeutig unter dem des geborenen taxiert, d.h. mit "bibeltreu" hat das Geschrei der sog. "Lebensschützer" nichts zu tun.

Gast (nicht überprüft) am Mi, 16.07.2025 - 10:36 Link

Wer Exodus 21,22 als exegetischen Trumpf gegen den Lebensschutz ausspielt, betreibt keine Bibelauslegung, sondern juristische Haarspalterei. Diese Stelle handelt von unbeabsichtigten Kollateralschäden bei Gewalthandlungen, nicht von der gezielten Tötung ungeborenen Lebens. Den Unterschied zu verwischen, ist exegetisch unredlich.

Noch problematischer ist die hermeneutische Methode: Soll eine isolierte Rechtsvorschrift aus dem Bundesbuch die gesamte christliche Anthropologie definieren? Nach dieser Logik müsste man auch die Sklaverei legitimieren (Ex 21,7–11) oder das Züchtigungsrecht für Väter reaktivieren (Spr 23,13–14). Wer selektiv mit dem Gesetz des Mose argumentiert, macht sich derselben Willkür schuldig, die er den „Lebensschützern“ vorwirft.

Die Berufung auf Schleiermacher ist hier besonders entlarvend: Ausgerechnet der Theologe, der das Christentum vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ her deutete, soll Kronzeuge für eine positivistische Bibelauslegung sein? Theologiegeschichtlich ist das absurd.

Zur Sache: Christliche Ethik entsteht nicht aus atomisierter Bibelstellen-Akrobatik, sondern aus der Rezeption der Gesamtbotschaft der Schrift im Licht der Christologie. Von der Menschwerdung Gottes her gedacht, beginnt die Würde des Menschen nicht erst mit der Geburt, sondern mit der Empfängnis. Alles andere ist nachträgliche Rationalisierung.

Wer meint, mit einer alttestamentlichen Fußnote zweitausend Jahre christlicher Anthropologie aushebeln zu können, verwechselt Gelehrsamkeit mit Weisheit. Die Bibel ist kein Steinbruch für beliebige Positionen, sondern Zeugnis einer Heilsgeschichte, die in Jesus Christus ihren Höhepunkt findet.

Schon Heraklit wusste: „Vielwisserei lehrt nicht, Verstand zu haben.“ Wer diesen Unterschied vergisst, verwechselt Exegese mit Eisegese.

Mit freundlichen Grüßen
Ein Protestant, der den Fluss schätzt – und den Grund kennt.

Florian Meier am Mi, 16.07.2025 - 15:07 Link

Abgesehen von der Selbststilisierung am Ende, die eher nicht von Demut zeugt, ist der Vorwurf der selektiven Bibelstellenakrobatik in alle möglichen theologischen Richtungen anzuwenden. Seltenst wird die Schrift in allen Höhen und Tiefen zur Antwort einer konkreten Frage ausgeleuchtet. Dazu braucht es ein sehr umfassendes Verständnis, das kaum jemand verfügbar ist. Darum setzt der Protestantismus da auch auf Diskurs: Man kann immer noch etwas lernen selbst Petrus und Paulus persönlich, wenn der Hahn kräht oder Damaskus ums Eck ist.

heraklit am Sa, 19.07.2025 - 11:09 Link

Danke, nur einen Einwand hätte ich: Der Vorwurf der selektiven Bibelstellenakrobatik passt hier deshalb nicht, weil m.W., ich lasse mich da auch gern eines besseren belehren, Ex. 21,22 f. die einzig wirklich relevante Stelle zur Problematik ist - hier gibt es schlicht nichts zu selektieren.

Florian Meier am Mi, 23.07.2025 - 12:19 Link

Das ist ihre Interpretation. De facto gab es heutige Formen der Abtreibung (z. B. medikamentös) und moderne Gynäkologie gar nicht, so dass eine finale letztgültige Wertung ohnehin schwierig ist. Ein stillschweigendes Einverständnis aus der Nichterwähnung herzuleiten ist unterkomplex. Klar ist im Bibelkontext der damalige hohe Stellenwert der Familie, was sich nicht nur aus langen Ahnentafeln und dem Gebot die Eltern zu ehren herleitet. Auch der hohe Stellenwert des Lebens (5. Gebot ziemlich kategorisch) und der Kinder ist wenig zweifelhaft: Viele Kinder gelten als Geschenk, Kinderlosigkeit als Schmach. Das taucht bei Elisabeth, Abraham usw. öfter auf. Wie wir damit nun in einer ganz anderen Zeit umgehen ist zu diskutieren, aber zu sagen nur diese eine Stelle sei relevant ist wirklich fragwürdig. Aus meiner Sicht gibt es auch viele Hinweise, die Frauen mehr Würde als nur als Familienanhang und Geburtsmaschine zugestehen und auch eine Hinterfragung des klassischen Familienbildes ist durchaus statthaft. Man erinnere an Matthäus 12,48, wo die Geistes- und Herzensverwandtschaft die Blutsverwandtschaft stark relativiert und auch sonst gibt es Stellen, die das Bild einer Menschheitsfamilie zeichnen - nicht zuletzt in der Genesis selbst. Das biblische Familienbild also einfach 1:1 auf die moderne Kleinfamilie anzuwenden ist ziemlich fragwürdig. Aus der Sicht des Augsburger Bekenntnisses ist die katholische Dogmatik zu einseitig und in der Tat wird der vorgeburtliche Lebensschutz völlig unverhältnismäßig überbetont, während andere Gewaltakte und Tötungen bisweilen eher hinten runterfallen. Aber die Relativierung von Leben ist ein schlüpfriger Pfad. Das hat sogar die Frau Richterin in spe selbst eingeräumt und natürlich ist das Grundgesetz, was im Schatten von Euthanasie und Massenmord entstand ziemlich kategorisch, wenn es von der unantastbaren Menschenwürde spricht. Der Versuch dieses mit der aktuellen Fristen-Beratungslösung zu versöhnen kann Frau Gersdorf nicht als Tötungsverharmlosung angelastet werden, aber es braucht hier jedenfalls neben der relativ nüchternen juristischen Formulierung eine breitere Debatte, wenn man die Regelung neu einjustieren will. Der ganze Vorgang hat den Eindruck erweckt (auch weil es bei der Linken durchaus Stimmen gibt man wolle §218 komplett kippen), dass man hier durch Richterwahl und Gemauschel diese Debatte, die natürlich wenig lustig und politisch gerade jetzt schwierig ist umgehen wollte. Es mag sein, dass das gar nicht intendiert war, aber allein der Anschein ist im gegenwärtigen Klima ein Problem und der wurde von den üblichen Verdächtigen natürlich breit ausgemalt. Ich finde gerade, wenn diverse christliche Kreise hier vorpreschen und vermeintlich im Namen der Christenheit sprechen, sollte die Landeskirche es nicht mit ein paar flapsigen Beschwichtigungen belassen unter Hinweis auf Mose oder wir lieben uns alle und die RKK ist etwas doof, sondern eine Position erarbeiten und gut begründen und soweit schon geschehen nochmals prüfen. Vermutlich wird dies nicht der letzte Aufreger zum Thema sein. Auch über die fantasievoll übertriebenen und teilweise wirklich bösartigen Anwürfe an Frau Gersdorf kann und soll man sprechen. Das macht aber die Begründung in der Sache nicht überflüssig oder unzulässig. Einen Blumentopf kann man damit vielleicht nicht gewinnen, aber darum sollte es in dieser Frage auch nicht gehen.

heraklit am Sa, 19.07.2025 - 10:16 Link

Lieber "Protestant, der den Fluss schätzt – und den Grund kennt.",
hier geht es nicht um exegetische Trümpfe, sondern um die einzige Bibelstelle, die zur Problematik überhaupt relevant ist. Das Argument der "unbeabsichtigten Kollateralschäden bei Gewalthandlungen" verwundert mich sehr, gelten sie doch für das Kind genauso wie für die Mutter. Wenn nun beim Kind der Täter mit einer vom Gatten festzulegenden Geldstrafe davonkommt, bei der dito unbeabsichtigt geschädigten Mutter dagegen das Talionsprinzip, "Leben um Leben" etc., anzuwenden ist, kann man daraus nur den Schluss ziehen, dass das ungeborene Leben nicht den gleichen Lebensschutz wie das geborene besitzt. Damit ist die Stelle völlig konform zu Brosius-Gersdorf im Kommissionsbericht "Möglichkeiten der Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches", S. 14: "Ein geringerer Lebensschutz des Embryos/Fetus ist widerspruchsfrei zum Lebensrecht des geborenen Menschen, bei dem sich jede Schutzabstufung verbietet." (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloa…)
Vollends absurd werden Ihre Ausführungen zu Schleiermacher: zur Funktion von Ethik und Recht innerhalb der Religion heißt es in den "Reden" nun wirklich eindeutig genug: "Nicht einmal der Sittlichkeit, die ihm doch weit näher liegt, muß das Recht bedürfen, um sich die unumschränkteste Herrschaft auf seinem Gebiet zu sichern, es muss ganz für sich allein stehen. Wer der Verwalter desselben ist, der muss es überall hervorbringen können, und jeder, welcher behauptet, daß dies nur geschehen kann, indem Religion mitgetheilt wird [...] der behauptet zugleich, daß nur diejenigen Verwalter des Rechts sein sollten, welche geschikt sind der menschlichen Seele den Geist der Religion einzugießen, und in welche finstere Barbarei unheiliger Zeiten würde uns das zurückführen."
Da können Sie sich gerne angesprochen fühlen.
MfG

schlum453728 am Mo, 14.07.2025 - 21:30 Link

Vielen Dank. Ich habe Dr. Herwig Gössl, den jetzigen Erzbischof von Bamberg, als einen unaufgeregten, gescheiten, dialogoffenen Priester kennen und schätzen gelernt. Ich hoffe zuversichtlich, dass der Ausrutscher, mit dem er sich in schlechteste politische Gesellschaft begibt, singulär bleibt. Er war ganz offensichtlich falsch informiert und ist jetzt nicht in der Lage, zurückzurudern, ohne eine erzkonservative Klientel zu verärgern.

Florian Meier am Mo, 14.07.2025 - 20:02 Link

Nunja, ich wäre hier mit so einer Bewertung etwas vorsichtiger. Zunächst die Kandidatin vertritt klassische Positionen in der SPD und ist dort sicher eher links aber nicht extrem angesiedelt. Die Kampagne diverser Leute ist also durchaus etwas überdreht, wobei ein Konflikt zur klassischen katholischen Dogmatik durchaus gegeben ist und deshalb die entsprechenden Stimmen auch nur bedingt verwundern. Die evangelische Landeskirche ist hier ruhiger, weil sie der Thematik pragmatischer und weniger ablehnend gegenübersteht, was bei anderen Themenfeldern durchaus auch anders ist und von entsprechend moralisierenden und emotionalen Stimmen begleitet wird und da die "religiöse Zurückhaltung" dann auf einmal gar nicht mehr so gepflegt wird. Im Grunde war dieser Konflikt im gegenwärtigen Stimmungsfeld durchaus absehbar und man fragt sich vor allem, warum man da die Parteiführungen derart naiv hinein gerannt sind. Die Kandidatin hat sich ja recht umfangreich in einer Talkrunde vor etwa einem Jahr geäußert und man kann sich da überzeugen, dass sie sicher fachkundig und keine Schreckensgestalt ist. Allerdings ist eine derartige politische Positionierung im Vorfeld einer solchen Berufung derzeit eher nicht förderlich. Man muss sich dazu im Klaren sein, dass die SPD aktuell unterhalb 15% Zustimmung steht und damit sich einer Kleinpartei annähert. Die Regierungsbeteiligung ist also eher den Umständen als der Überzeugungskraft geschuldet. Insofern ist eher taktisches Geschick als Polarisierung gefragt oder man ist konsequent und geht in die Opposition.