Anfang November ist Peter Lysy als neuer Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) offiziell in sein Amt eingeführt worden. Wie ist der evangelische Theologe zum Wirtschafts- und Sozialpfarrer geworden? Was hat ihn zum kda geführt? Markus Springer hat mit ihm gesprochen.

 

Herr Lysy, Sie waren bereits von 2008 bis 2009 und seit 2016 in verschiedenen Funktionen, zuletzt als stellvertretender Leiter für den kda, den "Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt" tätig. Anfang November sind Sie nun als neuer Leiter  kda des offiziell eingeführt worden. Welcher Weg hat Sie eigentlich zum kda geführt?

Peter Lysy: Ich habe auch in den USA studiert und dort eine klinische Seelsorgeausbildung gemacht im Grady Hospital, dem großen Innenstadtkrankenhaus in Atlanta. Das war ein echter sozialer Brennpunkt: viel Armut, Obdachlose, Tuberkulose, Gang-Schießereien, Vergewaltigungen, Drogenabhängige, Aids sind mir da begegnet. Nach dem Studium an einer behüteten Campus-Universität war das eine bewusste Entscheidung. Bei einer Tagung, die ich damals organisierte, waren auch sogenannte Corporate Chaplains dabei, also Betriebsseelsorger. Die haben mich sehr beeindruckt. Als Seelsorger in einen Betrieb zu gehen und die Leute auf der Arbeit zu begleiten, das fand ich eine sehr coole Idee. Ich habe damals mitgenommen, dass ich das auch gerne mal machen würde.

Sie sind dann nach Studium und Vikariat für ein sogenanntes Wirtschaftsvikariat zunächst zu BMW gegangen…

Ich bin bei einem Arbeitswelt-Praktikum dem Münchner Industrie- und Sozialpfarrer Roland Pelikan begegnet, der mich dazu ermutigt hat. Die damalige Leiterin des Predigerseminars fand die Idee eines Wirtschaftsvikariats eher so mittelgut, aber sie hat es durchgewunken. Durch einen Freund, der bei BMW arbeitet, ist meine Bewerbung auf dem Tisch des Chefs der Redenschreiber-Abteilung bei BMW gelandet…

Die haben eine ganze Redenschreiber-Abteilung?

Ja, tatsächlich. Im Bewerbungsgespräch hat mein damaliger Chef, der gut evangelisch ist, irgendwann gesagt: "Pfarrer sind doch Redenschreiber in eigener Sache, also kriegen Sie das schon hin." So habe ich ein Jahr lang als Redenschreiber bei BMW gearbeitet, schwerpunktmäßig auch für den damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Professor Joachim Milberg. Er hat damals die Gründung einer Nationalen Akademie der Technikwissenschaften vorangetrieben. Auch dafür habe ich viele Reden für ihn geschrieben und nach seiner Vorstandszeit bei BMW hat er mich für dieses Thema als seinen Redenschreiber behalten.

Der Arbeitswelt als Pfarrer treu geblieben

Danach war ich Gemeindepfarrer in Kemmoden-Petershausen bei Dachau, aber mit dem kda war ich immer in Kontakt. Mit meinem Vorgänger als Leiter des kda, Johannes Rehm, bin ich auch über den Prackenfelser Kreis freundschaftlich verbunden. Das ist ein theologischer Arbeitskreis von Menschen, die bei dem Erlanger Theologen Friedrich Mildenberger studiert haben. Als dann als Elternzeitvertretung eine Stelle frei wurde, habe ich das erste Mal für den kda gearbeitet. Meine Schwerpunktaufgabe war damals das Thema Betriebsarbeit und ein Chat-Seelsorge-Projekt zum Thema Arbeit.

Danach sind Sie der Arbeitswelt als Pfarrer treu geblieben…

Ja, ich habe ein Programm durchlaufen, das "Pfarrer in der Wirtschaft" heißt. Ich glaube, ich bin da aber bisher der Einzige, der das gemacht hat (lacht). Gedacht ist das für Pfarrerinnen und Pfarrer, die schon eine Weile im Dienst tätig waren und die dann für vier, fünf Jahre in die Arbeitswelt gehen. Das Programm wurde noch zu einer Zeit aufgelegt, als es noch so etwas wie einen "Pfarrerberg" gab, also mehr Personal als Stellen…

Von 2010 bis 2013 haben Sie Ihr Talent fürs Redenschreiben in den Dienst der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) gestellt – für den vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt und den damaligen vbw-Präsidenten Randolf Rodenstock.

Ja, und ich habe in dieser Zeit wahnsinnig viel gelernt über Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich musste wirklich zu allen möglichen Themen Reden schreiben. Es waren so an die 200 Reden im Jahr. Ich musste deswegen mit allen Referenten und Referentinnen des Hauses im Gespräch sein, denn die haben mir die nötigen Stichwörter gegeben. Wenn ich etwas nicht verstanden habe, bin ich zu ihnen gegangen und habe gesagt: Erklär mir das genau, so dass auch ich, der ich nicht vom Fach bin, das verstehe. Denn wenn ich das nicht kapiere, dann kapiert das auch niemand, der später die Rede hört.

Traumjob "Corporate Chaplain"

Bei der AOK Bayern waren Sie anschließend von Januar 2014 bis Dezember 2020 als "Corporate Chaplain" genau in dem Job, den Sie schon seit dem Studium machen wollten.

Stimmt, aber ohne dass meine Stellenbezeichnung "Betriebsseelsorger" oder Pfarrer gewesen wäre. Meine Stelle hatte den schönen Titel "Begleitung von Beschäftigten der Zentrale der AOK Bayern in Krisen- und Übergangszeiten". Das war wirklich eine tolle Zeit, denn ich konnte dieses Projekt komplett entwickeln, das gab es vorher nicht. Ausgangspunkt war eine Mitarbeiterbefragung, die ergeben hatte, dass die Mitarbeiter gerne jemanden von extern hätten, mit dem sie sprechen konnten.  Auch wenn das Projekt nicht so heißen durfte, war es Seelsorge pur. Wie im Krankenhaus ein Klinikpfarrer habe ich eben Menschen tagsüber in ihren Büros besucht und bin mit ihnen über das ins Gespräch gekommen, was sie bewegt und beschäftigt. Wichtig war mir auch der gute und vertrauensvolle Austausch mit dem Personalrat, der Schwerbehindertenvertretung und wichtigen Stabstellen im Personalbereich wie der internen Sucht- und Mobbingberatung oder dem Internen Gesundheitsmanagement. Zu allen habe ich bis heute Kontakt.

Wirtschaftspfarrer mit Erfahrungen in der Vorstandsetage

Aus der Außenperspektive gilt der kda eher so als die Gewerkschaft in der Kirche. Kommen Sie als Wirtschaftspfarrer mit Erfahrungen in den Vorstandsetagen nicht eher von der anderen Seite?

Wissen Sie, unser Auftrag lautet, als kda für alle Menschen in der Arbeitswelt da zu sein. Es ist tatsächlich so, dass wir nicht nur mit Arbeitnehmern und Gewerkschaften im Kontakt sind. Gerade im Handwerk oder im Gastgewerbe haben wir es oft auch mit Eigentümern und Eigentümerinnen zu tun.

Natürlich ist uns die Unterscheidung von Arbeit und Kapital, die man für gewöhnlich in der Arbeitswelt kennt und lebt, sehr bewusst. Aber für uns ist das nicht die primäre Unterscheidung. Als Kirche fragen wir eben nicht zuerst, wenn wir Gottesdienst feiern, welche Rolle jemand im Betrieb hat. Wir betrachten Menschen als Geschöpfe Gottes, und wir sind beauftragt, als Kirche für alle da zu sein.

Wir haben in der Arbeitswelt, und das muss man auch sagen, eine besondere Aufmerksamkeit für die sogenannten "Armen und Schwachen", also diejenigen, die oft hinten runterfallen, die keine Stimme haben, die in Not sind.

Aktion für Arbeitslose

Zum Beispiel die Arbeitslosen, die sich – anders als Arbeitnehmer – aufgrund ihrer prekären, theoretisch nur temporären Lage, nicht organisieren können, um ihre Interessen zu vertreten…

Genau. Seit Langem gibt es bei uns die "Aktion 1+1" für Langzeit-Arbeitslose und Jugendliche ohne Schulabschluss. Dafür sammeln wir Kollekten und Spenden – und die bayerische Landeskirche gibt für jeden gespendeten Euro einen Euro dazu. Aus diesen Geldern werden Stellen z.B. in Sozialkaufhäusern oder Werkstätten mitfinanziert, wo Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden.

Und dann arbeiten wir in bundesweiten Netzwerken zum Thema Erwerbslosigkeit mit. Wir haben uns da beispielsweise zum Thema digitales Existenzminimum positioniert: Für Teilhabe an der Gesellschaft braucht es auch die Möglichkeit, sich digitale Geräte anzuschaffen und ins Internet zu gehen. Das ist im Moment im Bürgergeld nicht abgebildet.

Gemischtwarenladen kda

Neben der "Aktion 1+1" gehören noch die AfA, die Aktionsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen zum kda, der "Kirchliche Dienst im Gastgewerbe", die Abteilung "Kirche und Handwerk", und dann ist da noch die "Betriebskontaktarbeit", die Ihrer Website zufolge das Alleinstellungsmerkmal des kda ist. Klingt nach einem ganz schönen Gemischtwarenladen? Wie hält man das alles zusammen? Und versteht man "draußen" oder auch in der Kirche eigentlich gut genug, was Sie da alles machen?

Oft nehmen wir Aufgaben unter anderen Überschriften war, auch weil wir dies vielfach mit anderen in Netzwerken und Kooperationen tun. Da wissen viele gar nicht, dass da der kda dahintersteht. Wir haben da, wenn man so will, ein "Markenproblem".

Wenn man zum Beispiel die 5000-Brote-Aktion nimmt: Dabei arbeiten wir zusammen mit Brot für die Welt, der Handwerkskammer und der Bäcker-Innung, damit Konfis in Bäckereien backen können und die Erlöse für Projekte weltweit zum Einsatz kommen.  Unser Arbeitsfeld, für das wir beauftragt sind, ist einfach sehr vielfältig und es bedarf oft der Kooperation mit anderen. Wir könnten noch mit viel mehr Akteuren zusammenarbeiten, wenn wir die Kapazitäten hätten.

Natürlich stehen wir da auch vor der Aufgabe, noch deutlicher zu machen, wo überall "der kda drin ist". Zudem sehe ich es als große Chance, unsere internen Strukturen und Prozesse noch besser zu gestalten, um auch den Austausch untereinander in unserer bayernweiten Einrichtung zu stärken und unsere Schnittstellen im kda, aber auch innerhalb unserer Kirche zu verbessern.

Missionarisch?

Der kda ist "Kirche am Ort der Arbeit als ein missionarischer Dienst der evangelisch-lutherischen Kirche", heißt es auf Ihrer Website. Wie missionarisch ist der kda? Wie sehr kann er es sein, wie sehr muss er es sein?

Unser ursprünglicher Auftrag kam ja aus der Wahrnehmung heraus, dass der Kirche die Arbeitnehmerschaft gewissermaßen von Bord gegangen war – und der kda sollte sie wieder in die Kirche holen. Das hat bekanntlich nur leidlich funktioniert. Aber es geht dabei eben nicht nur um den Selbsterhalt der Organisation Kirche. Der Erfolg unserer Arbeit lässt sich nicht daran messen, wie viele Seelen wir sozusagen in den Raum der Kirche zurückgeholt haben. Sondern ob wir über das, was wir zu verkündigen haben, mit Menschen ins Gespräch kommen, die durchaus kirchenfern sind. Das tun wir. Ob es zu einer Kirchenmitgliedschaft führt, ist dabei eine sehr offene Frage. Aber zumindest können wir voneinander lernen – und das meine ich sehr ernst. Denn es geht nicht nur um die Frage, wo wir von dem reden können, was wir als Kirche mitzuteilen haben, sondern auch darum, dass uns als Kirche etwas mitgeteilt wird. Das geht in beide Richtungen. Der Organisation Kirche in ihrer Milieu-Verengung tut das ganz gut. Es ist auch unser Auftrag, das in die Kirche hineinzutragen. Aber das alte Bild von der "Brücke zwischen Kirche und Arbeitswelt" ist schief. Der kda ist sowohl Teil der Kirche als auch Teil der Arbeitswelt, und zwar jeweils zu 100 Prozent.

Vier-Tage-Woche

Vor einiger Zeit hat sich Ihr Vorgänger Johannes Rehm in einem Sonntagsblatt-Kommentar für die Vier-Tage-Woche stark gemacht. Unsere Leser sind dagegen Sturm gelaufen. Die Lebensarbeitszeit in Deutschland ist geringer als in allen anderen Ländern Europas außer Luxemburg, hat gerade eine Studie ergeben…

Ich finde, das muss man sehr differenziert betrachten. Es gibt sicherlich Bereiche, in denen man über Arbeitszeitreduktionen nachdenken kann. Es gibt aber auch Bereiche, wo wir großen Fachkräftebedarf haben.

Das härteste Argument für eine Vier-Tage-Woche ist aus meiner Sicht die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Beruf und Pflege. Wenn man sich die Tarifverträge in der Metall- oder Chemiebranche anschaut, wurden da Spielräume geschaffen, dass man eine Entgeltsteigerung auch in Freizeit umwandeln kann. Das halte ich für einen sehr, sehr sinnvollen Weg, weil es individuelle Flexibilität schafft. Der eine braucht mehr Geld zum Leben, der andere braucht mehr Zeit für andere Dinge. Wenn es in diese Richtung geht, finde ich das eine sehr gute Entwicklung.

Reiches Deutschland?

Mehr Geld brauchen offenbar viele Deutsche: Vom Netto-Geldvermögen seiner Bürger steht Deutschland unter den 25 reichsten Ländern nur auf Platz 19. Und das wird gerade von der hohen Inflation zusätzlich aufgezehrt. Auch was die Immobilien-Eigentumsquote angeht, liegt unser Land deutlich hinter seinen Nachbarn. Stimmt die Erzählung vom reichen, produktiven Deutschland vielleicht so gar nicht?

Was ich gelernt habe in meiner Zeit bei der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft ist, dass man Zahlen, Daten und Fakten immer so zusammenstellen kann, dass es, ich sage mal, ein bestimmtes Narrativ und eine bestimmte Wahrnehmung bedient. Ich bezweifle die Zahlen nicht, aber man kann die Geschichte auch ein Stück weit anders erzählen. Gerade beim Schlagwort "Deindustrialisierung" oder bei der Abwanderung von Betrieben ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. Sicher, bei bestimmten Branchen, den Grundstoffindustrien, bei Glas- oder Stahlproduktion gibt es echte Probleme mit den hohen Energiekosten. Deswegen ist es ja auch sinnvoll, dass die Bundesregierung ein Strompreispaket beschlossen hat. Aktuell sehe ich noch keine Massenabwanderung der Industrie. Ich denke, dass wir immer noch einen sehr starken Standort haben im weltweiten Vergleich. Mehr als ein Viertel der Bruttowertschöpfung kommt hierzulande von der Industrie, was ein internationaler Spitzenwert ist. Die Frage ist jedoch, welche wirtschaftspolitische Dynamik das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds entfalten wird. Da sind jetzt Regierung und Opposition gemeinsam in der Pflicht, schnell zu verfassungskonformen Lösungen zu kommen, die den Standort stärken und nicht schädigen.

Und was das Netto-Geldvermögen angeht: auf Platz 19 zu stehen bedeutet ja auch, dass rund 170 Länder hinter uns liegen. Wir sind also im weltweiten Vergleich weiterhin ein sehr reiches Land und sollten uns da nicht arm reden. Aber wir haben in unserem Land deutliche Unterschiede zwischen Arm und Reich, und da muss man tatsächlich genauer hinschauen. Ich bin froh, dass wir derzeit Tarifverträge sehen mit Lohnsteigerungen, die mindestens die hohe Inflation ausgleichen. Das ist auch notwendig, um den sozialen Frieden in unserem Land zu wahren.

Hat der "Dritte Weg" Zukunft?

Im Arbeitsrecht gibt es für Kirchen, Diakonie und Caritas den sogenannten Dritten Weg. Er geht von einer "Dienstgemeinschaft" von Arbeitgeber und Arbeitnehmern aus, ein Streikrecht gibt es nicht. Nicht nur die Gewerkschaften bekämpfen dieses kirchliche Sonderrecht seit Langem. Wie kann man es angesichts der schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung der Kirche noch verteidigen?

Ich denke, wir haben auch in Kirche und Diakonie starke Arbeitnehmervertretungen, die aus meiner Sicht auch einen sehr guten Job machen. Am Ende des Tages glaube ich, dass sich zweiter und dritter Weg gar nicht so riesig unterscheiden, wie es in der öffentlichen Wahrnehmung häufig transportiert wird. Auch am Ende eines Tarifkonflikts mit Streiks steht häufig eine Schlichtung, wie das der Dritte Weg für den Konfliktfall vorsieht. Ich würde sagen: Wenn der dritte Weg nicht zu vergleichbaren Ergebnissen führt wie der zweite Weg, dann muss darüber diskutiert werden. Im Moment sehe ich das ehrlich gesagt nicht. Ich fände es jedoch gut, wenn es mehr interessierten Austausch zwischen Kirchen und Gewerkschaften zum Thema gäbe.

Schwacher Sonntagsschutz in Bayern

Wie steht es um den Sonntagsschutz in unserem Land?

Mäßig gut, leider! Erst vor Kurzem sind wir im Rahmen der Sonntagsallianz wieder zusammengesessen. Es gibt ja eine klare rechtliche Regelung, die auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist: Für Sonntagsöffnungen muss es einen Anlassbezug geben, der jenseits wirtschaftlicher Interessen gelagert ist. Nun sehen wir landauf, landab, auch in Bayern, dass dieser Anlassbezug regelmäßig und bewusst verletzt wird. Dagegen stellen wir uns. Schaut man genau hin, sind es tendenziell auch die größeren Kommunen, die Sonntagsöffnungen vorantreiben, zum Schaden des Umlands, dem dadurch Kaufkraft verloren geht. Denn jeder Euro, der in der Stadt ausgegeben wird, wird nicht in den Dorfladen oder zum Landbäcker gebracht. Das heißt: Sonntagsöffnungen verschärfen die Stadt-Land-Problematik in Bayern. Einer Landesregierung, der es doch um gleichwertige Lebensbedingungen in Bayern geht, sollte sich daher meines Erachtens viel offensiver für den Sonntagsschutz einsetzen.

Gerade war der kda federführend beteiligt an der Aktion "Bürgergeld-Bingo". Das Internet-Spiel macht anschaulich, wie wenig Geld die 502 Euro Bürgergeld faktisch sind. Andererseits kann man heute von Menschen in schlecht bezahlten Jobs, zum Beispiel von der Verkäuferin in der Bäckerei-Kette um die Ecke hören: Meine Arbeit lohnt sich nicht, ich gehe jetzt Bürgergeld beziehen, das Ganze funktioniert so nicht. Ich stehe um sechs Uhr auf, stehe mir für Mindestlohn die Beine in den Bauch – und andere kommen, wenn noch ein paar Kinder da sind und alle Leistungen zusammengerechnet, ohne Arbeit auf einen erklecklichen Betrag vom Staat. Was stimmt? Ist der Abstand vom Bürgergeld zu den niedrigsten Löhnen zu gering?

Wenn man sich anschaut, was man als Existenzminimum braucht, dann bildet das Bürgergeld das kaum ab. Ich glaube nicht, dass die Lösung ist, am Bürgergeld zu schrauben, sondern es braucht tatsächlich eine Nachsteuerung bei den Löhnen. Die Forderung von 14 Euro Mindestlohn halte ich gerade vor dem Hintergrund der aktuell hohen Inflation für absolut nachvollziehbar. Die jetzt für 2024 geplante Erhöhung auf 12,41 Euro ist zu wenig. Meines Wissens sind die Lohnabstände allerdings trotzdem groß genug. Zu sagen, ich gehe nicht arbeiten, weil ich als Bürgergeldempfänger genauso viel erhalte, das geben die Zahlen meines Erachtens nicht her. Vergessen wird da oft, dass Leistungen zum Teil deutlich erhöht wurden, die man beantragen kann, wenn es trotz Arbeit eng wird. Ich denke da etwa an das Wohngeld, das eben nur Menschen in Arbeit gezahlt wird. Vergessen wird auch, dass man sich im Bürgergeld keine Rente aufbauen kann, in Arbeit schon. Und dann sollte man auch folgendes sehen: Ein Fünftel aller Bürgergeldempfänger sind so genannte Aufstocker, also Menschen, die trotz Arbeit nicht das Existenzminimum erreichen, und von den restlichen 80 Prozent können sehr viele nur sehr eingeschränkt arbeiten, weil sie etwa als Alleinerziehende zuhause gebunden sind oder körperliche oder seelische Erkrankungen haben. Diesen Menschen Unwillen oder gar Faulheit zu unterstellen, zeugt mindestens von Unwissen.

Konfliktthema Migration

Im heißen Eisen Migration steckt auch sozialpolitisch Sprengstoff, das belegt nicht zuletzt die zugleich gewissermaßen "nationale" und "sozialistische" Ausrichtung der in Gründung begriffenen Sarah-Wagenknecht-Partei…

Ich denke, beim Thema Migration ist es enorm wichtig zu differenzieren, weswegen Menschen zu uns kommen. Dafür, dass Menschen Asyl beantragen, gibt es ja auch Gründe. Neben den anerkannten Asylsuchenden gibt es geduldete Menschen. Die allerwenigsten können tatsächlich abgeschoben werden. Gerne wird ja öffentlich behauptet, die meisten Asylsuchenden wollen nur in unsere sozialen Sicherungssysteme einwandern. In der wissenschaftlichen Debatte ist die These eines solchen ausschließlichen oder primären "Pull-Effekts" jedoch längst überholt. Experten sagen, dass Menschen aus ganz anderen Gründen fliehen, die in der Regel in ihren Heimatländern liegen. Wenn, dann geht es primär um "Push-Effekte", nicht "Pull-Effekte".

Allerdings: Im Juni 2023 besaßen 44,4 Prozent der arbeitslosen Bürgergeldbezieher keinen deutschen Pass. Im April lebten rund 55 Prozent der Syrer und 48 Prozent der Afghanen in Deutschland von staatlichen Transferleistungen.

a, und es ist eine große, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Menschen aus den Transferleistungen herauszuholen. Ich denke, die Wirtschaft hat da schon einiges geleistet und ist auch willig. Viele stellen ein, viele bilden aus. Und es gibt ja Bedarf an Arbeitskräften. Auch politisch wird da einiges getan. Im Moment haben wir wie 2015 die Situation, dass sehr, sehr viele Menschen relativ gleichzeitig in unser Land gekommen sind, und das ist natürlich eine Riesenaufgabe. Aber ich bin jemand, der sehr stark darauf vertraut, dass wir das hinbekommen.

Was mir Mut macht, sind die zahlreichen sichtbaren Erfolge gelungener Integration in Arbeit. Über diese wird meines Erachtens leider zu wenig berichtet.

Bis in die Ampelkoalition hinein scheint sich derzeit jedoch die Erkenntnis auszubreiten, dass man auf Dauer nicht beides haben kann: funktionierende Sozialsysteme und offene Grenzen, jedenfalls ohne kontrollierten Zuzug. Freier Zustrom in die Sozialsysteme führt unweigerlich zu deren Kollaps.

Also, ich glaube nicht, dass wir im Moment einen ungeregelten Zustrom haben. Das einzige "Ungeregelte", das unsere Regierung gemacht hat, war die Masseneinwanderungsrichtlinie, die Öffnung für die Ukrainer und Ukrainerinnen. Alles andere ist meiner Wahrnehmung nach durchaus stark geregelt. Natürlich ist die Frage wichtig: Steht die Bevölkerung hinter diesen Entscheidungen oder nicht?

Mir fällt auf, dass immer wieder insbesondere die Migranten als besonders bedrohlich oder belastend für unsere Gesellschaft beschrieben werden, die nicht zu unserem Kulturkreis gezählt werden, etwa Menschen aus Nahost oder Afrika. Da bekommt die öffentliche Debatte dann eine rassistische Einfärbung, die uns nicht weiterhilft. Das lehne ich ausdrücklich ab.

Links:

 kda-Bayern

 Allianz für den freien Sonntag

 5000 Brote

 Bürgergeld Bingo

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