München (epd). Der katholische Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx hat sich angesichts des Ausmaßes von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising "erschüttert und beschämt" gezeigt. Sein erster Gedanke gelte "den Betroffenen sexuellen Missbrauchs" durch kirchliche Mitarbeitende, sagte Marx am Donnerstagnachmittag in einer ersten Reaktion zu dem von der Rechtsanwaltskanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" mittags vorgestellten unabhängigen Gutachten.

Im Erzbistum München und Freising habe im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2019 sexueller Missbrauch "in einem erschreckenden Ausmaß" stattgefunden, sagte Marx. Die Begegnungen mit Betroffenen habe bei ihm eine Wende bewirkt, betonte der Erzbischof. Sie hätten seine Wahrnehmung von Kirche verändert und veränderten diese weiterhin. Inhaltlich wollte Marx nicht auf das Gutachten eingehen und verwies stattdessen auf eine für kommende Woche angekündigte Pressekonferenz.

Dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche "nicht ernstgenommen" und Täter nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien, das wisse man seit Jahren - spätestens seit dem ersten Missbrauchsgutachten des Erzbistums aus dem Jahr 2010, sagte Marx. Als Erzbischof fühle er sich "mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten" und bitte als amtierender Erzbischof im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das erfahrene Leid im Raum der Kirche.

Die Kanzlei hatte das knapp 1.900-seitige Gutachten am Donnerstag nach der Pressekonferenz dem Generalvikar des Erzbistums, Christoph Klingan, und der Amtschefin Stephanie Herrmann übergeben. Zu Beginn der Gutachtenspräsentation hatte Rechtsanwältin Marion Westpfahl Marx deutlich dafür kritisiert, dass er dazu nicht persönlich erschienen war. Der Erzbischof hätte sich unmittelbar und für die Öffentlichkeit wahrnehmbar mit den Ergebnissen konfrontieren lassen müssen, befand sie.

Stattdessen nahm Generalvikar Klingan im Anschluss an die Präsentation und Journalistenfragen kurz Stellung. Man danke der Kanzlei für ihre Arbeit, ein solch umfangreiches Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising erstellt zu haben: "Meine Gedanken sind in dieser Stunde zunächst bei den Betroffenen", die durch Mitarbeitende der katholischen Kirche "großes Leid erfahren haben", erläuterte der Generalvikar: Den Betroffenen müsse "unser erstes Augenmerk gelten".

Dem Gutachten zufolge haben sich Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gefunden. 247 Opfer seien männlich und 182 Opfer weiblich gewesen. Bei 68 Fällen sei eine Zuordnung wegen anonymer Hinweise nicht möglich gewesen. 60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Damit bestätige sich, dass die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen seien.

Gegenstand der Untersuchungen seien mit Blick auf die Täter insgesamt 261 Personen gewesen, bei 235 hätten sich die Hinweise auf "untersuchungsgegenständliche Verhaltensweisen" ergeben. Von ihnen seien 173 Priester gewesen. Die Rechtsanwälte erheben in ihrem Gutachten den Vorwurf des Fehlverhaltens gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen. Kardinal Marx werfen die Gutachter vor, die Missbrauchsaufklärung nicht zur "Chefsache" gemacht zu haben.