Es scheint, das Sommerloch hat sein erstes Thema gefunden: Die "Kürzung des Elterngeldes". Doch im Windschatten der künstlichen Empörung segelt ein viel größerer Skandal.

Fakt ist, die in Aussicht gestellte "Reform des Elterngeldes" hatten sich die Leser*innen des Koalitionsvertrages wohl anders vorgestellt. Aber: Es handelt sich ja auch gar nicht um eine Kürzung. Denn für circa 96 Prozent der Bezieher*innen von Elterngeld ändert sich nichts.

Geplante Elterngeld-Reform

Richtig ist, dass Paare mit einem zu versteuernden Einkommen von mehr als 150.000 Euro im Jahr zukünftig nicht mehr berechtigt sein könnten, Elterngeld zu beantragen. Gleichstellungspolitisch nicht schön, aber die mediale Aufmerksamkeit suggeriert hier mehr Empörung beziehungsweise Betroffenheit als im Schnitt in der Gesellschaft vorhanden sein dürfte.

Apropos, von den 32 Prozent elterngeldbeziehender Mütter, die nur den seit 16 Jahren nicht erhöhten Mindestsatz von 300 Euro bekommen, redet niemand.

Doch statt Eltern gegeneinander auszuspielen und eine Sozialneiddebatte zu befeuern, müsste die Frage lauten: Sind wir als Gesellschaft damit einverstanden, Familien das Geld – egal an welcher Stelle – zu kürzen? Elterngeld ist Teil des kalkulierten Einkommens und wird in der Regel für Konsumausgaben genutzt.

Es fließt also direkt zurück in den heimischen Wirtschaftskreislauf und kann für "Investitionen" in "gesellschaftlicher Verantwortung" und für die "Zukunft" genutzt werden.

Was wirklich wichtig ist 

Wichtig für den Standort Deutschland ist die Familienfreundlichkeit, eine gesunde Umgebung, gutes Aufwachsen, Teilhabe, finanzielle Sicherheit für alle Kinder und Jugendliche und ihre Familien. Gute Bildung, verlässliche Schulen und Sozialarbeit, Begleitung und Unterstützung von Familien in allen Lebenslagen, die Liste ist so einfach wie lang.

Paradoxerweise zählt Bundesfinanzminister Christian Lindner Investitionen in "Bildung" zu seinen eigenen Prioritäten und behauptet, mit der Erhöhung des Kindergeldes auf 250 Euro im Monat genug für Familien getan zu haben.

Mehr ist gegen Kinderarmut nicht möglich? Das ist der Skandal!

Politische Prioritäten müssen anders ausgerichtet werden.

Geplante Kindergrundsicherung

Die Umsetzung einer Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient, muss einen wirklich nennenswerten Beitrag zur Verbesserung der Lage von Kindern in prekären Lebenslagen leisten. Es geht um mehr als darum, mit materiellen Mitteln die physische Existenz zu sichern.

Entscheidend für Kinder und Jugendliche ist die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Es muss nach Ansicht der eaf ein ausreichender Kindermindestbedarf definiert und dabei festgelegt werden, wie dieser ermittelt wird.

Einfach nur das Basis-Kindergeld zu erhöhen, von automatisierter Auszahlung zu sprechen, digitalisierte Antragsstellung zu vereinfachen und ansonsten alle bestehenden Fehler und Schnittstellenproblematiken aus dem alten System in das neue zu übertragen, ist kein Systemwechsel und wird unter dem Strich nicht zu mehr Geld in den Familien und besseren Teilhabemöglichkeiten und weniger Stigmatisierung für Kinder und Jugendliche führen.

Wo liegt der Investitionsschwerpunkt der Politik?

Wir müssen also nicht über "Reformen" beim Elterngeld oder "Einführung einer Kindergrund­sicherung" sprechen, da der Interpretationsspielraum des Koalitionsvertrages von den Verantwortlichen im Bund offenbar gänzlich anders ausgelegt wird als von den Fachverbänden und Familienorganisationen.

Wir müssen über politischen Gestaltungswillen und Investitionsschwerpunkte sprechen.

Als evangelische arbeitsgemeinschaft familie erwarten wir, dass Zukunft in erster Linie für die Menschen, für die Kinder, für Familien in Deutschland gestaltet wird.

Einsparungen im Haushalt des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend gehören mit Sicherheit nicht dazu. Die dort angesiedelten Themen und Projekte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Sie alle sind wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und im Zweifelsfall die Unterstützung der sozial Schwächsten, derer, die keine Stimme, keine Sprachkenntnisse, keine Zeit oder sonstige Ressourcen haben, um laut zu werden.

Wir brauchen eine Einsamkeitsstrategie, Kinder- und Jugendsozialarbeit und Demokratieförderprojekte, wir brauchen Elterngeld und Elternzeit. Wir brauchen keine Kürzungen oder Einschränkungen von Anspruchsberechtigen, sondern vielmehr eine Ausweitung der Möglichkeiten, damit Familien mit den gestiegenen Anforderungen des Alltags mithalten können.

Reform des Elterngeld-Modells

Wir brauchen mehr Elterngeldmonate! Um die gemeinsame Verantwortungsübernahme für das Kind gleich von Anfang an zu stärken, fordert die eaf seit Jahren, das Elterngeld auf eine Bezugsdauer von maximal 18 Monaten auszubauen. In dem frei aufteilbaren Modell von 6+6+6 Monaten soll sichergestellt werden, dass jeder Elternteil einen eigenen Anspruch auf 6 Monate hat, weitere 6 Monate frei aufteilbar sind.

Denn wir brauchen mehr Gleichstellung! Eine faire Verteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen. Wir brauchen Zeit für Familien, Sorge und Pflege.

Familien laufen nicht erst seit Corona und den explodierten Energie- und Lebenshaltungskosten am Limit. Studien wie die der Bertelsmann-Stiftung belegen, dass das Geld in Familien in erster Linie für die Kinder ausgegeben wird. Sowohl die Kindergrundsicherung als auch das Elterngeld kommt also direkt Kindern, und damit der Zukunft unserer Gesellschaft zu Gute.

Wir müssen also über die grundsätzlichen Prioritäten der Bundesregierung sprechen.

 

Kommentare

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Magnolie am So, 16.07.2023 - 13:56 Link

Das heisst jede dritte Frau bekommt nur 300 € und das wurde seit 16 Jahren nicht erhöht ? Das ist-wie sie schreiben-der eigentliche Skandal. Ich habe im Jahr 2002 300 € Erziehungsgeld erhalten, Elterngeld gab es damals noch nicht. 300 € Elterngeld sind in der heutigen Zeit viel zu wenig, allein um die Inflation auszugleichen müsste sofort auf 400 € erhöht werden, Windeln sind teuer!

Sylvia Klug am So, 16.07.2023 - 08:52 Link

Guten Morgen,
Ich denke dass eine Kürzung des Elterngeldes für hohe Einkommensgruppen sinnvoll ist.
Bei der Kindergrundsicherung bin ich skeptisch.
Ich habe meine Zweifel, ob das Geld dann wirklich bei den Kindern ankommt und ob das Geld in Bildung und Förderung investiert wird. Ist es da nicht sinnvoller, bei niedrigem Einkommen die Kita- und erweiterte Schulbetreuung mit Angeboten in Musik, Nachhilfe und Ähnlichen Angeboten finanziell zu unterstützen?