Kinderrechte ins Grundgesetz: Das fordert der Münchner Verein SOS-Kinderdorf. Zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes warb er kürzlich dafür im Internet gemeinsam mit anderen Verbänden, Organisationen und Prominenten. Luise Pfütze leitet die politische Arbeit von SOS-Kinderdorf auf Bundesebene und ist Vorstandsmitglied der "National Coalition" in Berlin, die für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland eintritt. Zum Internationalen Kindertag am 1. Juni erklärt sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), warum die Chancen für Kinder-Grundrechte so gut stehen wie noch nie.

 

Frau Pfütze, warum gehören Kinderrechte nach Ansicht vieler gesellschaftlicher Gruppen ins Grundgesetz?

Pfütze: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern eigenständige Persönlichkeiten - und damit auch eigene Rechtspersönlichkeiten. Zu ihrer Entwicklung benötigen sie besonderen Schutz und besondere kindgerechte Förderung und Beteiligung.

Das Grundgesetz spiegelt die Rechte, Pflichten und Werte unserer ganzen Gesellschaft wider, weswegen Kinder explizit als eigene Rechtssubjekte genannt werden sollten und nicht nur, wie bisher, als Regelungsgegenstand elterlicher Sorge.

Heribert Prantl hat geschrieben, die Verfassung sei eine "Liebeserklärung ans Land", und wenn die Kinder darin fehlen, dann fehlt etwas ganz Wichtiges. Ich bin sicher: Würden die Kinder im Grundgesetz perspektivisch genannt, dann würden sie auch anders wahrgenommen.

Deutschland hat 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert - was bedeutet das?

Pfütze: Damit hat sich Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, diese umzusetzen. Doch bisher haben die darin enthaltenen Kernelemente keine Entsprechung im Grundgesetz. Zentral ist der Vorrang des Kindeswohls beziehungsweise der "best interests" des Kindes bei allem staatlichen Handeln. Außerdem zählen die Rechte auf Entwicklung, auf Beteiligung, auf Schutz und Förderung dazu. Dabei greifen die Rechte auch ineinander, denn die Interessen von Kindern kann man nicht bestimmen, ohne vorher ihre Meinung gehört zu haben.

Wie wäre es im Alltag spürbar, wenn es die Kinderrechte im Grundgesetz gäbe?

Pfütze: Wenn sie als Grundrechte aufgenommen werden würden, entstünde dadurch ein einklagbarer Rechtsanspruch auf höchstem Niveau. Im Alltag hätte das beispielsweise Auswirkungen im familienrechtlichen Bereich. Bis heute haben viele Familienrichter in ihrer Ausbildung nichts mit Kinderrechten zu tun. Außerdem würden die Interessen von Kindern politisch ganz anders berücksichtigt als heute. Dabei haben viele Themen große Relevanz für Kinder. Dass also dringender Handlungsbedarf besteht, zeigt sich auch an den Klimaschutz-Demonstrationen und an den Debatten zum Wahlrecht ab 16.

Wie hat sich die Wahrnehmung von Kindern in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Pfütze: An vielen Stellen in der Gesellschaft werden Kinder heute stärker als eigenständig wahrgenommen, was sich auch rechtlich niedergeschlagen hat. In den 1980er Jahren etwa gab es die Sorgerechtsreform, bei der das Wort "elterliche Gewalt" durch "elterliche Sorge" ersetzt wurde. Im Jahr 2000 kam dann das Gewaltverbot in der Erziehung. Aber wenn es hart auf hart kommt, treten die Interessen von Kindern heute immer noch oft in den Hintergrund. Auch bestehen oft Bedenken, dass die Elternrechte durch die Kinderrechte geschwächt werden könnten. Das ist ein Missverständnis, denn

Elternrechte sind auch explizit in der UN-Kinderrechtskonvention genannt. Somit werden durch die Stärkung von Kinderrechten auch Eltern in ihrer Aufgabe, die Rechte ihrer Kinder zu verwirklichen, gestärkt.

Wie bewerten Sie aktuell die Chancen, die Kinderrechte politisch durchzusetzen?

Pfütze: Ich schätze die Chancen derzeit so konkret und so gut ein wie noch nie. Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien dazu verpflichtet, Kinderrechte explizit als Grundrechte aufzunehmen. Auch die Grünen und Linken haben sich dezidiert dafür ausgesprochen. Das ist wichtig, denn eine Grundgesetzänderung muss ja durch beide Kammern der Legislative. Zurzeit tagt eine Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft, die bis Ende 2019 eine Formulierung vorlegen will. Es geht also nicht mehr ums Ob, sondern ums Wie: dass Kinderrechte tatsächlich als Grundrechte und an der UN-Kinderrechtskonvention orientiert aufgenommen werden.

Trägt die "Fridays for Future"-Bewegung dazu bei, Kinder und Jugendliche als mündige Bürger wahrzunehmen?

Pfütze: Das tut sie bestimmt. Aber die Kinderrechtsdebatte ist schon vorher immer breiter geworden. Und auch die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) macht sich sehr stark für das Thema.