Es ist Punkt 12.30 Uhr an diesem letzten Novemberfreitag. Der scharfe Klang einer Glocke zerteilt die neblige Stille, die über der KZ-Gedenkstätte Dachau hängt.

Seit dem 2. November ist der Ort wegen der Corona-Pandemie für Besucher geschlossen, er bleibt es auch den ganzen Dezember. Doch die Glocke der Versöhnungskirche ruft trotzdem hell und hartnäckig zum Friedensgebet unterm Nagelkreuz der Coventry-Gemeinschaft.

Gebet vor leeren Reihen in der Versöhnungskirche Dachau

Das Zeichen ist klar: "Gedenken und Gebet sind nicht einfach abgebrochen durch den Teil-Lockdown", sagt Björn Mensing, Pfarrer der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der Gedenkstätte.

Sonst kommen Gedenkstättenbesucher aus den USA, aus Europa oder Asien spontan zu dem Gebet hinzu, das Dachau seit 2012 mit den 72 deutschen Nagelkreuzzentren und den Geschwistern der Coventry-Gemeinschaft weltweit verbindet.

Jetzt sind es mal vier, mal nur einer vom Team der Seelsorge an der Gedenkstätte. Mit dem Gebet vor leeren Bänken schlagen sie einen Pflock in den Treibsand der Pandemie.

Andenken an die Zerstörung der Kathedrale von Coventry

Der katholische Pastoralreferent Ludwig Schmidinger leitet heute das Gebet. Er lehnt die Kopie eines Schwarz-Weiß-Fotos an das schlanke Kreuz, das aus drei langen Zimmermannsnägeln gefertigt ist und an die Zerstörung der Kathedrale von Coventry erinnert.

Die deutsche Luftwaffe hatte die mittelenglische Stadt am 14. November 1940 dem Erdboden gleichgemacht.

Das Foto zeigt einen jungen Priester. Der Niederländer Arnold van Lierop war nach der deutschen Invasion verhaftet und über viele Stationen ins KZ Dachau verschleppt worden. "Er ist nur ein halbes Jahr nach seiner Ankunft am 27. November 1942 im Alter von 45 Jahren ermordet worden", sagt Ludwig Schmidinger.

Versöhnungsgebet von Coventry - ohne Publikum

Im Anschluss sprechen die Anwesenden das Versöhnungsgebet von Coventry. Der Text wurde 1958 verfasst, doch seine wenigen Zeilen sind immer noch aktuell.

Es ist eine große Bitte um Vergebung für den Hass, die Gier, den Neid, die Gleichgültigkeit, die damals wie heute Not und Elend verursachen.

Was bringt das einsame Gebet nun? Ein Gebet brauche kein Publikum, bringt Björn Mensing es auf den Punkt: "Der Beter macht das Gebet." Dazu komme die weltweite Verbundenheit: Alle Nagelkreuzzentren beten am Freitagmittag das gleiche Gebet.

Das regelmäßige Coventry-Friedensgebet: ein Kontinuum in unsicheren Zeiten

Global betrachtet ist "Freitagmittag" zwar eine recht wackelige Brücke. Doch wie es scheint ist sie stark genug, das gemeinsame Anliegen der Versöhnung auch in Corona-Zeiten in allen Zentren lebendig zu halten.

Die Dachauer haben sich an ihre neue klösterliche Tradition jedenfalls schnell gewöhnt. Für Ludwig Schmidinger ist der feste Termin in der leeren Kirche "eine Art Haltepunkt", der dem profanen Alltag einen anderen Horizont gibt.

Für Björn Mensing ist es eine Art Versprechen und ein Kontinuum wie die Kerze in der Kirche, die Tag und Nacht brennt. "Dieses eine Licht brennt immer in der Gedenkstätte", sagt der Theologe, "wir sorgen dafür, dass es nie ausgeht."

Genauso, wie das Gebet für den Frieden auch im Lockdown nicht endet.