Es gibt kaum einen Bereich, den die Künstliche Intelligenz nicht erfasst. Jetzt ist sie sogar ins Jenseits vorgedrungen: Erste Tech-Firmen bieten an, mit Verstorbenen zu kommunizieren – virtuell. Das läuft über Avatare oder Chatbots ab. Sie werden mit möglichst vielen Informationen gefüttert, um die Situation möglichst real wirken zu lassen. Dennoch bleibe es

eine "Simulation, eine mediale Repräsentation einer Person, die niemals identisch ist mit dem Verstorbenen und niemals alle seine Facetten abbilden kann",

sagt der Medienkulturwissenschaftler Martin Hennig. Für solche Technologien werde zwar mit Aussagen wie "Be you twice" ("Sei zweimal du") geworben oder es werde von digitalen Zwillingen gesprochen, sagt der Forscher.

Damit suggeriere die digitale After-Life-Industrie aber, dass es sich um eine komplette Abbildung der Person handle. "Das ist sicher nicht der Realität entsprechend und führt auch in die Irre."

Künstliche Intelligenz mit Daten von Verstorbenen

Laut Hennig werden die Anwendungen mit den Daten der Verstorbenen – in der Regel Texterzeugnisse aus der Social-Media-Kommunikation – trainiert. Sie simulierten so den Sprachduktus des Verstorbenen und auch Anteile der Persönlichkeit. Die Feinabstimmung laufe dann mit einem KI-generierten Sprachmodell, um die zielgenaue Kommunikation zu imitieren, erläutert Hennig, der an der Universität Tübingen an einem Projekt zur Ethikfolgenabschätzung solcher Technologien mitgearbeitet hat.

Bei dem Tübinger Projekt "Edilife" sind ihm zufolge empirische Profis aus dem Feld von Tod und Trauer wie Sterbebegleiter, Palliativmediziner und Seelsorger unterschiedlicher Religionen befragt worden. "Da wurde ein breites Spektrum an Nutzungsmöglichkeiten deutlich, aber auch ein Spektrum an Ängsten und Problemen, die vielleicht auftreten können", fasst er zusammen.

ABSCHIEDE LEBEN: Schwerpunktthema des Campus Kommunikation

Sterben und Tod und Trauer sind Teile des Lebens, nicht die besten, aber sie gehören dazu. Und wo diese Themen nicht verdrängt werden, ist intensiveres Leben möglich. "Abschiede Leben" – der erste Themenschwerpunkt im Campus Kommunikation der bayerischen Landeskirche fragt deshalb danach, was Sterbende den Lebenden mitgeben können an Erfahrungen, Lebensweisheit und Hoffnung. In unterschiedlichen Medien und Publikationen werden die Themen Sterben und Tod von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Die Frage, wie das Leben im Angesicht des Todes gelingt, kommt in Gesprächen mit Pflegekräften, Hospizhelferinnen und Sterbeforschern zur Sprache.

Medienkulturwissenschaftler Martin Hennig
Martin Hennig ist Medienkulturwissenschaftler am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen.

So könne es in einem psychotherapeutischen Kontext durchaus sinnvoll sein, eine solche Simulation zu nutzen, um einem verstorbenen Familienmitglied etwas zu sagen, was vor dem Tod nicht mehr möglich war. Die Experten hätten aber die Frage aufgeworfen, inwiefern so eine Interaktion das Trauern verhindern könne,

"weil Trauern auch ein Abschließen-Können beinhaltet und diese Technologie dem entgegensteht".

Selbst wenn der Hinterbliebene realisiert, dass er mit einer Maschine spricht, könnten Emotionen ausgelöst werden, "die ihn in einer Grauzone halten".

Hennig spricht sich für einen gesellschaftlichen Diskurs über KI-basierte Anwendungen für Hinterbliebene aus, denn noch hätten die Technologien den Markt nicht durchdrungen. Er rät aber davon ab, von vornherein einen Gegensatz zwischen traditionellem Trauern und dem mit Avataren herbeizureden: "Der Erinnerungsprozess beim traditionellen Trauern ist auch niemals eine exakte Abbildung der Vergangenheit, sondern absolut selektiv: Dinge werden verzerrt, hervorgehoben oder ausgeblendet." 

THEMA-Magazin Abschiede leben

Sterben ist ein wichtiger Teil des Lebens, nicht der beste, aber er gehört zum Leben dazu. Wer wahrhaftig leben will, sollte vielleicht nicht erst am Ende auf sein Leben zurückblicken. Den Tod im Blick: Das verändert die Perspektive auf die Welt. Es geht um die Kunst zu leben und darum, was Bestand hat, wenn die Sanduhr abläuft.

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Perspektivwechsel durch Sterben, Tod und Trauer

Der Tod im Leben

  • Ein prall gefülltes Leben: Versatzstücke der Erinnerung an eine Verstorbene
  • Du tot – alles Container! Von der Absurdität der dinglichen Welt
  • Was Sterbende brauchen: Ein Palliativmediziner berichtet aus dem Alltag
  • Wer erbt, kann auch gießen: Ein Komödiant als Botschafter der Hospizbewegung

Trauer und Abschied

  • Wann ist Opa vom Sterben wieder gesund? Mit Kindern über den Tod reden
  • Die Urne im Wohnzimmer Wege, sich auf den Tod vorzubereiten
  • Der Tod ist ganz schön lebendig Studierende verändern ihren Blick auf das Leben
  • Kulturen des Abschieds Bedeutende Grabmäler der Welt
  • Für eine Kultur des Aufhörens Einübungen in die Endlichkeit des Lebens

Neue Bestattungskulturen

  • Emotionales Abschiednehmen Veränderungen in der Trauerkultur
  • Der Sargmaler vom Bodensee Ein Künstler, der zugleich Trauerbegleiter ist
  • Solidarischer Ort oder Steinplattenwüste Vom Traum des Lebens auf dem Friedhof

Virtuelle Wiederauferstehung und Jenseits

  • Trauernde bleiben in einer Grauzone Unsterblichkeit durch Künstliche Intelligenz
  • Auferstehung als vollkommen Neues Über die After-Life-Industrie als Endlosschleife

Unsere THEMA-Magazine informieren verständlich und umfassend jeweils über ein Schwerpunkt-Thema, das Kirche und Gesellschaft bewegt. Mit spannenden Reportagen und exklusiven Geschichten – auf 52 Farbseiten, schön bebildert und journalistisch hintergründig aufbereitet sowie mit vielen praktischen Hinweisen und Tipps. THEMA ist ein ideales Geschenk und Mitbringsel (Umfang 52 Seiten, 4-farbig, Format 17 x 23 cm).

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Magnolie am Sa, 02.11.2024 - 10:55 Link

Danke für diesen informativen Artikel. Noch ein weiterer Punkt erscheint mir fragwürdig: Ist es überhaupt im Sinne des Verstorbenen, wenn eine KI sich seiner scheinbaren Identität bemächtigt? Analog zum Begriff der kulturellen Aneignung könnte man das als `personale Aneignung` bezeichnen, die unerwünscht sein könnte.
Um KI Systeme zu trainieren wird außerordentlich viel Strom verbraucht, die KI verhagelt jetzt schon die Klimabilanz der Tech Konzerne. Individuelle Avatare solllten deshalb die Ausnahme bleiben und es sollte auch nicht ohne Einwilligung des Verstorbenen geschehen dürfen (Testament).