Am vergangenen Montag wurde auf dem X-Account des bayerischen Innenministeriums ein Video online gestellt, das vor Salafismus warnen sollte. Es wurde kurze Zeit später wieder gelöscht, wohl unter dem Eindruck heftiger Kritik an der darin enthaltenen Darstellung von Muslimen. Wie beurteilen Sie diesen Vorgang?

Mirjam Elsel: Ich bin entsetzt über die darin verwendete Bildsprache und die dargestellten rassistischen und muslimfeindlichen Stereotypen. Radikalisierungsprävention lässt sich so nicht betreiben.

"In den Sozialen Medien lässt sich nichts löschen"

Immerhin wurde es gelöscht.

In den Sozialen Medien lässt sich nichts löschen. Jetzt wird es auf rechtsextremen Kanälen gefeiert und international von islamistischen Gruppierungen zitiert. Ich habe Videos von YouTubern gesehen, die vielleicht nicht direkt Islamisten rekrutieren, aber zur Radikalisierung beitragen und vor allem bei Jugendlichen beliebt sind. Wenn das Innenministerium so etwas postet, muss ihnen eigentlich klar sein, welche Dynamik das in der ohnehin schon angespannten Stimmung auslöst.

Es reicht nicht, das Video kommentarlos zu löschen. Es braucht eine Stellungnahme mit einer Begründung, warum das Video gelöscht wurde, und eine Entschuldigung mit einer deutlichen Klarstellung, dass muslimische Symbole, wie etwa das Kopftuch, nichts mit Islamisten zu tun haben. 

Radikalisierungsprävention ist dringend notwendig, Einrichtungen wie ufuq oder die Eugen-Biser-Stiftung leisten da hervorragende Arbeit. Wir brauchen mehr davon. Ein solcher Videoclip trägt leider nicht dazu bei, sondern befeuert, wie es sich beobachten lässt, islamistische Ideologie.

Sie sprachen gerade von der ‚ohnehin angespannten Stimmung‘. Was genau meinen Sie damit?

Musliminnen und Muslime stehen in unserem Land derzeit unter einem extremen Druck. Nach dem Anschlag von Solingen und nun sicherlich auch nach dem heutigen Anschlagsversuch in München fühlen sie sich dem Generalverdacht einer von ihnen ausgehenden potenziellen islamistischen Gefahr ausgesetzt. Die allermeisten von ihnen sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, denen die freiheitlich-demokratische Grundordnung am Herzen liegt und die keineswegs im Widerspruch zu ihren religiösen Überzeugungen steht. Im Gegenteil, islamische Werte wie die Zuwendung zu allen Mitmenschen, die Anerkennung der Menschenrechte und das friedliche Zusammenleben gehören für sie dazu. Zu unterscheiden ist zwischen dem Islam als einer der großen Weltreligionen und dem gewaltbereiten Islamismus, der zum Terror gegen andersdenkende Muslime und nichtmuslimische Gesellschaften aufruft.

Mirjam Elsel
Pfarrerin Mirjam Elsel ist die Beauftragte der bayerischen Landeskirche für interreligiösen Dialog.

Gilt das nur für Deutschland?

Die Zunahme von Muslimfeindlichkeit ist europaweit zu beobachten. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien schüren gezielt Islamfeindlichkeit. Ich habe den Eindruck, dass dies nach dem Anschlag in Solingen, aber auch unter dem Eindruck der Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen, auch in Deutschland wieder zugenommen hat.

"Ich habe den Eindruck, dass viele Muslime hier das Gefühl haben, nicht willkommen zu sein und auf ihre Religion reduziert zu werden"

Wie reagieren Muslime aus Ihrer Sicht darauf?

Das muslimische Leben bei uns ist sehr vielfältig, deshalb bin ich vorsichtig, von Muslimen im Allgemeinen zu sprechen.

Ich habe den Eindruck, dass viele Muslime hier das Gefühl haben, nicht willkommen zu sein und auf ihre Religion reduziert zu werden. Dabei ist der Mensch viel mehr als seine Religion. Musliminnen und Muslime werden aber oft aufgrund ihres muslimischen Glaubens als gefährlich oder unerwünscht angesehen. Diese Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen bis hin zu Übergriffen erleben Musliminnen und Muslime in ihrem Alltag immer wieder – und sie haben im letzten Jahr zugenommen.

Sehr engagierte Muslime im interreligiösen Dialog, die sich seit Jahren gegen Antisemitismus und für ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt in unserem Land einsetzen und Leistungsträger in der Gesellschaft sind, erzählen mir, dass sie sich fragen, ob sie wirklich zu dieser Gesellschaft gehören. Muslimische Mütter berichten mir von der Angst ihrer Kinder, dass Rückwanderungsüberlegungen auch sie treffen könnten. Das ist ein Armutszeugnis für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die aktuell laufende Migrationsdebatte in Deutschland?

Forderungen wie ein genereller Einreisestopp für Menschen aus muslimisch geprägten Ländern wie Afghanistan, Syrien oder dem Irak würden vor allem Menschen treffen, die selbst Opfer islamistischer Gewalt geworden sind. Die Migrationsdebatte trägt nicht dazu bei, islamistische Anschläge zu verhindern. Auch hier sind die Hintergründe der Täter vielfältig. Sollen jetzt alle Österreicher ausgewiesen werden oder alle Männer oder welche Merkmale sind relevant? Das ist doch absurd.

"Islamismus ist eine enorme Gefahr für die europäischen Gesellschaften und ihre freiheitlich-demokratische Verfassung"

Die aktuell gemachten Vorschläge werden aus Ihrer Sicht also nicht helfen, Islamismus zu bekämpfen?

Migrationsfragen und die Gefahr des islamistischen Terrorismus haben nichts miteinander zu tun. Der Islamismus ist eine enorme Gefahr für die europäischen Gesellschaften und ihre freiheitlich-demokratische Verfassung. Wir müssen uns eingestehen, dass noch so viele Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden können – solche Anschläge lassen sich nicht vollständig verhindern. Offene Gesellschaften sind verwundbar, und genau das nutzen islamistische Terroristen aus. Ihr Ziel ist es, die europäischen Gesellschaften zu destabilisieren, ihre demokratische Ordnung zu untergraben und das gesellschaftliche Leben durch Angst zu bestimmen. Diese Terroristen gewinnen gerade dann, wenn wir auf solche Anschläge mit Restriktionen und Stigmatisierungen reagieren. Ihre Ideologie der Ausgrenzung und der Nichtanerkennung demokratischer Strukturen teilen sie mit Rechtsextremisten.

Was braucht es Ihrer Meinung nach stattdessen?

Dem können wir als Gesellschaft nur entgegentreten, wenn wir alles daransetzen, dass unsere freiheitlichen Grundwerte ausnahmslos für alle Menschen in diesem Land gelten. Das ist schwierig genug. Ein Überbietungswettbewerb bei den Vorschlägen zur Einschränkung des Zuwanderungsrechts wird dabei nicht helfen und islamistische Anschläge leider auch nicht verhindern. Was wir tun können, ist, trotz dieser Bedrohung eine offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft zu bleiben. Und wenn ein Klima herrscht, in dem sich alle – auch Musliminnen und Muslime – anerkannt und wertgeschätzt fühlen, dann schwindet auch der Nährboden für Radikalisierung.

Ein weiterer dringender Handlungsbedarf besteht bei den Plattformen, auf denen sich Islamisten radikalisieren und neue Anhänger rekrutieren. Plattformen wie X oder TikTok sind nicht reguliert. Das betrifft nicht nur Islamisten – auch Rechtsextreme nutzen diese Plattformen zur Radikalisierung. Es wäre an der Zeit, klare Regeln für diese Plattformen aufzustellen oder sie zu verbieten. Natürlich würde das nicht alle Probleme lösen oder verhindern, dass sich Menschen auf andere Weise radikalisieren, aber es würde den Zugang zu diesen gefährlichen Ideologien deutlich erschweren.

Inwiefern kann interreligiöser Dialog gegen Islamismus helfen?

Der Islamismus hat glücklicherweise erst einmal nichts mit dem interreligiösen Dialog zu tun. Islamisten tauchen dort nicht auf, weil sie einfach kein Interesse daran haben. Die Gruppen, die im Dialog sind, werden auch nach den Ereignissen weitermachen, und viele sagen: Jetzt erst recht!

Was ich aber beobachte, ist, dass es für die muslimischen Vertreterinnen und Vertreter immer anstrengender und schwieriger wird. Sie müssen sich ständig rechtfertigen, distanzieren und Stellung beziehen. Immer wieder werden sie mit Klischees und Vorurteilen konfrontiert. Auch das erwähnte Video war für viele ein Schlag ins Gesicht. Das erschwert ihre Arbeit ungemein, manche resignieren sogar. Sie sagen: 'Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich will nur mein Leben leben, arbeiten und mich um meine Familie kümmern. Wenn solche Menschen als Dialogpartner wegfallen, ist das natürlich ein Problem.

"Das gibt mir trotz der schwierigen Zeiten Hoffnung"

Was kann interreligiöser Dialog im besten Fall leisten?

Im interreligiösen Dialog begegnen sich ganz unterschiedliche Menschen und sprechen über die großen Fragen des Lebens. Im Mittelpunkt stehen dabei Werte, die uns in einer spirituellen und religiösen Grundhaltung verbinden. In einer Gesellschaft, in der Religion oft eine geringere Rolle spielt, bietet der interreligiöse Dialog einen Raum, in dem Menschen, für die Religion wichtig ist, sich austauschen und darüber nachdenken können, wie wir zusammenleben wollen und wie ein Leben in Vielfalt aussehen kann. So kann der Dialog auch ein Modell sein, von dem hoffentlich immer wieder positive Impulse in die Gesellschaft ausgehen. Das gibt mir trotz der schwierigen Zeiten Hoffnung. Denn es zeigt, dass es möglich ist, Vielfalt zu leben und ein friedliches Miteinander zu gestalten - gerade dann, wenn Menschen sich wirklich kennen und begegnen.

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