Willkommen im Sommer 2024, wo es nur noch rechts oder links gibt, und die Mitte wie ein unerreichbares Einhorn durch die politischen Landschaften streift. Die goldene Mitte, das Refugium des rationalen Diskurses, ist so unsexy geworden wie gestrickte Socken mit Löchern.

Aber was ist eigentlich passiert? Hat die Mitte ihren Charme verloren? Oder ist sie einfach zu leise geworden, um gehört zu werden? Die Antwort liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. In einer Zeit, in der soziale Medien die öffentliche Meinung dominieren, haben extreme Positionen Hochkonjunktur. Wer schreit, wird gehört. Wer differenziert, geht unter. Ein schlüssiges Argument hat gegen ein buntes Meme in den sozialen Medien keine Chance. Früher war es möglich, Diskussionen zu führen, ohne dass sie in eine Schlammschlacht ausarteten. Heute reicht ein falsches Wort, um einen Shitstorm epischen Ausmaßes zu entfachen. Es scheint, als hätten wir die Fähigkeit verloren, verschiedene Meinungen zu tolerieren. Bist du nicht auf meiner Seite, bist du gegen mich.

Skandale, Empörung und dramatische Konflikte ziehen mehr als nüchterne Berichterstattung

Nachrichtenportale haben erkannt, dass Extreme Auflage bringen. Skandale, Empörung und dramatische Konflikte ziehen mehr als nüchterne Berichterstattung. Et voilà – der Teufelskreis: Die Medien bedienen extreme Ansichten und verstärken damit die radikalen Meinungen. Wer versucht, in dieser Kakofonie treu in der Mitte zu bleiben, hat oft das Nachsehen. – Und dann ist da noch das Phänomen der Echokammern. Wir leben größtenteils in unserer eigenen Blase, in der wir uns wohlig hin und her wälzen. Dank Algorithmen in den Internetsuchmaschinen, die unsere Vorlieben und Abneigungen kennen, bekommen wir nur das zu sehen, was uns in unserer Meinung bestärkt.

Diese Filterblasen sorgen dafür, dass wir immer weniger mit gegensätzlichen Standpunkten konfrontiert werden und immer stärker in unseren Überzeugungen verharren.

Aber ich bin überzeugt, noch ist nichts verloren.

Wir müssen wieder lernen, zuzuhören und zu verstehen, warum andere anders denken. Kompromisse eingehen und akzeptieren, dass es nicht immer einfache Lösungen gibt. Unser Leben ist nicht rechts oder links, oben oder unten, schwarz oder weiß. Es ist voll von Grautönen, die erst durch den Dialog und das gegenseitige Verstehen sichtbar werden.

Vielleicht ist die Mitte nicht tot, sondern nur schwer zu erkennen in einer Welt der Extreme. Ich träume jedenfalls weiter, sehr kindlich, von der goldenen Mitte – denn sie ist der Schlüssel zu einer gesunden, harmonischen, funktionierenden Gesellschaft.

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