"Bekämpfung der sozialen Spaltung ist kein Kernanliegen der Bundesregierung."
Seit knapp zwei Jahren regiert die Ampel mit einem SPD-Kanzler. Das weckte bei manchen die Hoffnung, dass diese Regierung die weit verbreitete Armut in Deutschland angehen wird. Waren Sie zum Start der neuen Regierung auch optimistisch?
Joachim Rock: Durchaus, aber der Optimismus wurde schnell gedämpft: Der Koalitionsvertrag enthielt nur die vage Absichtsbekundung, mehr Kinder aus der Armut zu holen, und selbst daran, dass das gelingt, muss man heute zweifeln. Der Verzicht auf Steuererhöhungen und das Bekenntnis zur Schuldenbremse signalisierten früh, dass die Bekämpfung der sozialen Spaltung kein Kernanliegen der Bundesregierung sein würde.
Was hat die Bundesregierung beim Thema Armutsprävention und Armutsbekämpfung liegen gelassen?
Die Folgen von Pandemie und Inflation haben Menschen mit geringen Einkommen mit besonderer Härte getroffen. Die Bundesregierung hat daraufhin viel Geld verteilt, aber wenig umverteilt. Es fehlte an schnellen und gezielten Hilfen für die, die sie am dringendsten gebraucht hätten. Begriffe wie "Bürgergeld" und "Grundrente" versprachen echte Unterstützung. Diese Versprechen werden nicht eingelöst.
Ist die FDP für die Versäumnisse verantwortlich?
Die FDP hat einen wesentlichen Anteil an den Versäumnissen, aber die Bundesregierung ist insgesamt in der Verantwortung.
"Armut ließe sich abschaffen, das Geld dafür ist da."
Hatte Armutsbekämpfung bei früheren Bundesregierungen einen höheren Rang in der politischen Prioritätensetzung?
Das Armutsrisiko steigt seit 2006 beinahe fortwährend. Den politischen Willen, das zu ändern, sehe ich nicht. Dabei ließe sich Armut durch eine armutsfeste Ausgestaltung der Sozialversicherungen und gezielte Transfers aus Steuermitteln abschaffen. Das Geld dafür ist da.
Renate Schmidt, Familienministerin unter Kanzler Schröder, sagte kürzlich in einem Interview, die Kinderarmut habe sich seit den 1960er Jahren mindestens verfünffacht. Hat sie recht?
Das trifft zu. Mitte der 1960er Jahre erhielten weniger als ein Prozent der Bevölkerung Sozialhilfe, heute beziehen etwa acht Prozent Mindestsicherungsleistungen. Zudem nehmen zwischen 40 und 60 Prozent der Berechtigten ihre Ansprüche nicht wahr. Nicht der Missbrauch, sondern der Nichtgebrauch sozialer Rechte ist ein Problem. Der Bundesregierung darf das nicht egal sein.
Was sind die Gründe für die Verarmung großer Teile der Bevölkerung, insbesondere von Familien? An fehlender wirtschaftlicher Dynamik kann es ja nicht liegen.
Mit der Hartz-Gesetzgebung sollte der größte Niedriglohnsektor Europas geschaffen werden. Die Armut von heute ist auch der "Erfolg" dieser Politik von gestern. Der Mindestlohn liegt immer noch unter der Empfehlung der Europäischen Union, die 60 Prozent des mittleren Stundenlohns - etwa 13,50 Euro - als Untergrenze empfiehlt. Das reicht nicht, erst recht nicht für eine auskömmliche Rente. Die Spreizung der Einkommen nahm zudem zu, bei unteren Einkommen führen Preissteigerungen sogar zu Realeinkommensverlusten.
Die Sozialleistungen gleichen das nicht aus: Kindergeld etwa wird vollständig mit dem Bürgergeld verrechnet. Das Bürgergeld ist selbst viel zu niedrig kalkuliert, es müsste zumindest bei 725 Euro plus Unterkunft, Strom und Heizung liegen. Der Verzicht der Bundesregierung, durch Steuern stärker umzuverteilen, vergrößert die Spaltung zusätzlich. Die Vermögensungleichheit ist sogar noch krasser als die Einkommensungleichheit: Das reichste Zehntel besitzt 60 Prozent der Vermögen, die ärmsten 60 Prozent haben fast kein Vermögen, aber vielfach Schulden.
"Armut wird in Deutschland bagatellisiert und kleingerechnet."
Wird das Ausmaß der Verarmung in Deutschland systematisch kleingeredet, auch von staatlichen Behörden?
Armut wird in Deutschland bagatellisiert und kleingerechnet. Die amtlichen Statistiken fragen vor allem nach dem "Armutsrisiko". Wer jedoch über so wenig Geld verfügt, ist arm. Hinter der Kulisse eines wohlhabenden Landes verbirgt sich ein Ausmaß an Ungleichheit, wie wir es bisher nicht kannten. Das hat handfeste Folgen: Wir sehen Familien, die sich keine gesunde Ernährung leisten und wichtige Medikamente nicht bezahlen können, die von sozialer Teilhabe ausgeschlossen und, wie zwei Millionen Menschen auf die Tafeln angewiesen sind. Und wir wissen auch: Wer arm ist, muss früher sterben.
"Die AfD profitiert davon, obwohl sie selbst eine Politik für die Reichsten propagiert, Ungleichheiten forciert und Spaltungen produziert."
Ist die Verarmung großer Teile der Bevölkerung auch Ausdruck einer zu schwach ausgeprägten demokratischen Kultur?
Ja. Soziale und politische Teilhabe sind eng verknüpft. Im Auftrag der Bundesregierung wurde in ihrer Armutsberichterstattung gezeigt, dass die politischen Entscheidungen sehr häufig zulasten der Armen gingen. Diese fühlen sich mit Recht unterrepräsentiert. Die AfD profitiert davon, obwohl sie selbst eine Politik für die Reichsten propagiert, Ungleichheiten forciert und Spaltungen produziert.
Fehlt es der Gesellschaft in Deutschland am Willen zur Solidarität?
Viele Menschen in Deutschland sind solidarisch, können dadurch aber an den forcierten Verteilungskämpfen wenig ändern. Es reicht nicht, abstrakte Chancen zu versprechen, wir brauchen mehr Gleichheit, Parität eben.
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