Nach der Messerattacke in Aschaffenburg, bei der ein Mann afghanischer Nationalität einen 41-Jährigen und ein zweijähriges Kind tötete, ist mir auf Instagram ein Video angezeigt worden, bei dem mir die Tränen kamen.

Es zeigt ein zwölfjähriges Mädchen in einem schwarzen Wintermantel, das auf einer Gedenkfeier spontan auf eine Bühne tritt und zu all den versammelten Menschen in ein Mikrofon sagt: "Ich entschuldige mich bei der Mutter des Kindes." Dann beginnen ihre Schultern zu beben und ihr kommen die Tränen.

Nach einem kurzen angespannten Moment der Stille sagt eine Frau aus dem Organisationsteam beruhigend zu ihr: "Du musst dich nicht entschuldigen. Du kannst nichts dafür." Das Mädchen, das als Fatima vorgestellt wurde, wischt sich eine Träne aus den Augen und spricht mit zitternder Stimme wieder in das Mikrofon: "Aber Menschen denken, weil ich ein Afghane bin, dass ich böse bin."

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ein von @br24 geteilter Beitrag

Falschinformationen und maximale Härte

Schaue ich nach solch erschütternden Taten wie in Aschaffenburg oder vor ein paar Tagen in München auf die Statements von Politiker*innen und die Schlagzeilen vieler Medien, vermisse ich eines ganz massiv: Mitgefühl. Es wird fast ausschließlich zuerst auf den Täter geblickt, auf seine Nationalität, auf seine Religiosität. Dabei rückt die Menschlichkeit meistens komplett in den Hintergrund.

Wenige Stunden nachdem ein Mann in München mit seinem Mini Cooper in eine Demonstration steuerte und dabei zwei Menschen tötete und viele verletzte, sprach Innenministerin Nancy Faeser (SPD), von "maximaler Härte", CDU-Chef Friedrich Merz sprach davon, "Recht und Ordnung konsequent durchzusetzen" und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte, in Deutschland müsse sich etwas ändern, "aber rasch".

Schnell wurde behauptet, bei dem Täter habe sich um einen kriminellen, ausreisepflichtigen Afghanen gehandelt – Informationen, die Stunden später korrigiert werden mussten. Falschinformationen, die nicht etwa von dubiosen Webseiten oder rechtsextremen Schreiern verbreitet wurden, sondern unter anderem vom bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU).

Und so ging in der öffentlichen Berichterstattung und Wahrnehmung völlig unter, was doch eigentlich erst einmal am wichtigsten gewesen wäre: Mitgefühl mit all denen, die an diesem Tag Furchtbares erleben mussten. Mitgefühl mit denen, die im Krankenhaus lagen, Schmerzen hatten, traumatisiert wurden. Mitgefühl und Dankbarkeit für großartige Rettungskräfte und Polizist*innen, die teils Schlimmeres verhinderten und dabei selbst Schreckliches miterlebten, das sie nun verarbeiten müssen.

Auf die Menschen blicken, die unser Mitgefühl brauchen

Ja, es ist wichtig, Hintergründe aufzuarbeiten. Ja, es ist wichtig, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, "Recht und Ordnung konsequent durchzusetzen", "aber rasch" und meinetwegen auch die "maximale Härte" des Rechtsstaates anzuwenden.

Ich würde mir nur wünschen, wir würden nach so einer Tat alle erst einmal einen Schritt zurücktreten, durchatmen und auf die Menschen blicken, die gerade unser Mitgefühl brauchen. Dass wir der Menschlichkeit den Vorrang geben und unsere Taten nicht von Hass oder Wut leiten lassen. Ich würde mir wünschen, dass Politiker*innen schreckliche Momente wie diese nicht für ihren eigenen Wahlkampf instrumentalisieren würden. Dass sie besonnen handelten, anstatt Falschinformationen in die Welt zu blasen, die zu ihrem vorgefertigten Weltbild zu passen scheinen.

Würden wir das tun, würden wir vielleicht auch darüber sprechen, dass sich noch am selben Tag des Anschlags von München spontan Hunderte spontan vor der Feldherrnhalle versammelten, ihre Solidarität mit den Betroffenen und Forderungen stellten wie: "Kein Wahlkampf auf dem Rücken der Opfer".

Oder darüber, dass Menschen in München am Ort des Attentats in der Seidlstraße eine Menschenkette bildeten, um AfD-Politiker*innen den Weg zum Tatort zu versperren und diese so davon abhielten, Blumen niederzulegen.

Oder darüber, dass Familie und Freunde der 37-jährigen Frau und ihrer zweijährigen Tochter, die bei der Attacke in München so schwer verletzt wurden, dass sie diese nicht überlebten, folgendes Statement veröffentlichten:

"Wir möchten uns zunächst bei denen herzlich bedanken, die aufrichtige Anteilnahme und Solidarität gezeigt haben. Wir bedanken uns bei den Hilfskräften, bei den Pflegekräften, Ärzt*innen für die gute Unterstützung, Begleitung und für den emotionalen Beistand. Amel ist in Algerien geboren und ist mit vier Jahren nach Deutschland gekommen. (…) Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter Hafsa lebte sie seit 2017 in München. Amel war ein Mensch, der sich für Gerechtigkeit eingesetzt hat. War aktiv für Solidarität, Gleichheit und setzte sich für Arbeitnehmer*innenrechte ein und gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Ihr war es sehr wichtig, ihrer Tochter diese Werte mitzugeben. Wir möchten bekräftigen, dass der Tod und der Verlust nicht benutzt werden, um Hass zu schüren und ihn politisch zu instrumentalisieren. (…)."

Mädchen weint auf offener Bühne

Es bricht mir das Herz. Es bricht mir das Herz, dass ein 12-jähriges Kind denkt, sich für eine Gewalttat entschuldigen zu müssen, nur weil sie dieselbe Nationalität wie der Täter hat. Es bricht mir das Herz, dass wir als Gesellschaft ihr diesen Eindruck vermittelt haben. Es bricht mir das Herz, dass ein zweijähriges Kind bei der Attacke getötet wurde. Es bricht mir das Herz, dass der 41-jährige Passant, der offensichtlich mutig dazwischengehen wollte, diese Heldentat nicht überlebte. Es bricht mir das Herz, dass eine Mutter und ihr Kind von einem Auto überfahren und danach gestorben sind – und ich bin mir sicher, dass es möglich ist, mit ALLEN Beteiligten mitzufühlen. Nicht nur möglich ist, sondern unbedingt möglich sein sollte.

Als die 12-jährie Fatima in Aschaffenburg von ihren Tränen überwältigt wird, erklingen aus dem Publikum "Nein"-Rufe. "Ich glaube vor dir stehen ganz, ganz viele Leute und kein einziger Mensch hier ist böse auf dich", spricht die Moderatorin dem Mädchen Mut zu. Lauter Applaus und Zurufe bestätigen ihre Aussage. 

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