Im Prozess um die tödlichen Polizeischüsse auf den 16-jährigen Flüchtling Mouhamed Dramé in Dortmund vor zweieinhalb Jahren fällte das Landgericht am Donnerstag ein Urteil, das nicht nur die Angehörigen, sondern auch Teile der Öffentlichkeit in Aufruhr versetzte: Alle fünf angeklagten Polizisten wurden freigesprochen.

Vorsitzender Richter Thomas Kelm begründete dies mit einer angeblichen Notwehrsituation. Er verwies auf die Verständigungsprobleme mit Dramé, der nur Spanisch und Französisch sprach und anfangs nicht reagierte. Diese Argumentation erweckt jedoch den Eindruck, dass die Polizei in ihrer Einschätzung des Geschehens versagt hat. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass der 16-Jährige "keinen Angriff geplant" hatte. 

Die Nebenkläger kündigten umgehend Revision an, während die Staatsanwaltschaft das Urteil zunächst prüfen will. Die Staatsanwaltschaft hatte Freisprüche für den 31-jährigen Schützen sowie für zwei Kolleginnen und einen Kollegen im Alter von 30, 32 und 35 Jahren gefordert, für den Einsatzleiter jedoch eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung. Die Nebenklage sah die Verantwortung für den Vorfall hauptsächlich beim Einsatzleiter, während die Verteidigung einen Freispruch für alle Angeklagten verlangte.

Nach Urteilsverkündung: Proteste im Gerichtssaal

Nach der Urteilsverkündung kam es im Gerichtssaal zu Protesten. Unterstützer des getöteten Jungen skandierten "Justice for Mouhamed". Der Solidaritätskreis Mouhamed und das Komitee für Grundrechte und Demokratie äußerten sich fassungslos, wütend und traurig über das Urteil.

Britta Rabe, die den Prozess für das Komitee beobachtet hatte, nannte die Entscheidung einen Beleg für das "völlige Fehlen einer Verantwortungsübernahme". Ihrer Ansicht nach billigte das Gericht den beteiligten Beamten eine "tödliche Einsatzlogik", die in Zukunft nicht dazu beitragen werde, tödliche Polizeieinsätze zu verhindern.

"Das Urteil sendet das Signal: Ihr könnt weitermachen wie bisher, für tödliche Schüsse drohen keine Konsequenzen."

Polizeiwissenschaftler Behr spricht von taktischem Fehler

Auch der renommierte Polizeiwissenschaftler Rafael Behr äußerte scharfe Kritik und hob hervor, dass das Gericht den "taktischen Fehler" nicht berücksichtigte, der zur angeblichen Notwehrsituation geführt habe. Er hätte es als gerecht empfunden, wenn der Einsatzleiter zumindest zu einer symbolischen Strafe verurteilt worden wäre. Dies hätte klar auf das fehlerhafte Verhalten der Polizei hingewiesen und sie gezwungen, neue Vorgehensweisen zu trainieren.

Die Anwältin der Nebenkläger, Lisa Grüter, sprach den Angehörigen des getöteten Dramé aus der Seele, als sie betonte, wie schwer es für sie zu verkraften sei, dass der Tod ihres Familienmitglieds rechtlich nicht geahndet werde und niemand dafür zur Verantwortung gezogen werde. Insbesondere den 56-jährigen Einsatzleiter sah sie in der Verantwortung und forderte seine strafrechtliche Verfolgung. Sie werde Rechtsmittel beim Bundesgerichtshof einlegen und könne das Urteil nicht nachvollziehen.

Um diesen Fall ging es

Der Vorfall vom 8. August 2022 in einer katholischen Jugendhilfeeinrichtung hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Polizei wurde alarmiert, weil der 16-jährige Dramé anscheinend mit einem Messer drohte, sich das Leben zu nehmen. Die Beamten setzten Pfefferspray ein und griffen anschließend zu Tasern, als Dramé versuchte, zu fliehen.

Ein 31-jähriger Polizist gab schließlich sechs Schüsse mit einer Maschinenpistole ab. Die beteiligten Beamten rechtfertigten ihr Handeln damit, dass der Jugendliche angeblich mit dem Messer in der Hand auf sie zugelaufen sei.

(mit Material vom epd)

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Florian Meier am Sa, 14.12.2024 - 10:13 Link

Tatsächlich verdienen solche Einsätze, die in ähnlicher Form immer wieder vorkommen eine gründliche Nachbetrachtung und sicher ist hier einiges schief gelaufen. Allerdings ist der Artikel sprachlich ungenau: Die Polisten haben sicher nicht angegeben der Getötete sei angeblich auf sie zugelaufen (was Zweifel auch von deren Seite impliziert) sondern er sei auf sie zugelaufen. Ob es wirklich so war ist eine andere Frage. Die Erwartung der Öffentlichkeit ist oft auch erstaunlich hoch: Man erwartet, dass normale Streifenpolizisten im Angesicht eines mutmaßlichen tödlichen Angriffs innerhalb von Sekunden nach einmal nachfragen, ob das jetzt wirklich ernst gemeint sei und dann mit einem zirkusreifen Kunstschuss den Angreifer stoppen ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Wer schon einmal einen Angriff im Nahbereich erlebt hat, weiss dass das nichts mit der Realität zu tun hat. Fehler wurden eher vorher gemacht, die überhaupt zu so einer Situation führten. Anders als der Durchschnittsbürger kann die Polizei aber auch nicht einfach Abstand halten oder x Spezialkommandos rufen sondern muss die Lage erkunden und d. h. sich in unübersichtlicher Situation in erhebliche Gefahr begeben. Das muss bei aller Kritik an taktischen Fehlern auch mitbedacht werden. Ein Messerangriff ist extrem gefährlich. Die Informationen im Artikel reichen sicher nicht aus um es besser als das Gericht zu wissen. Dass Freunde und Familie des Getöteten zu diesem stehen und empört sind ist verständlich und ihr gutes Recht kann aber kein Maßstab für eine Verurteilung sein. Der Polizei müssen grobe Fehler nachgewiesen werden und das ist nicht so einfach.