Seit dem Angriff Israels auf Iran Mitte Juni ist nichts mehr wie zuvor – auch nicht in Jerusalem. Die deutsche Pfarrerin und Studienleiterin Milena Hasselmann lebt mit ihrer Frau und den drei Kindern dort. Sie berichtet im Interview eindrücklich von Sirenen, Schutzräumen und einem Alltag im Ausnahmezustand. Und sie beschreibt, wie schwer es ist, inmitten multipler Wahrheiten, Spannungen und Ängste als Kirche präsent zu bleiben – ohne einfache Antworten, aber mit offenen Ohren und offenem Herzen.

Frau Hasselmann, wie haben Sie die jüngste Eskalation zwischen Israel und Iran erlebt?

Milena Hasselmann: Jerusalem gilt als vergleichsweise sicher – zumindest, was direkte Angriffe betrifft. Aber auch hier war die Nacht unruhig. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens heulten die Sirenen, es gab Raketenalarm. Wir bekamen Warnmeldungen aufs Handy: "Achtung, wir haben den Start eines Raketenangriffs beobachtet, begeben Sie sich in den nächsten Minuten an einen Schutzort." Zum Glück ist bei uns nichts passiert. Anders als in Tel Aviv oder im Norden.

Könnte man sagen, dass sich die israelische Bevölkerung an solche Nächte gewöhnt hat?

Israel ist ein krisenerprobtes Land, das zeigt seine Geschichte – und das ist nicht unbedingt etwas, was man beneiden muss, aber es herrscht hier etwas wie eine organisierte Gelassenheit. Es gibt hier ein sehr geübtes und gut aufgestelltes Krisenmanagement, das sofort in Kraft tritt. Es gibt Alarm-Apps, die ständig aktualisiert werden und kürzlich wurden auch öffentliche Gebäude daraufhin geprüft, ob sie als Schutzräume dienen können. Dieses Land ist sehr schnell darin, sich an neue Situationen anzupassen. Das ist gut, weil es Struktur gibt. Zugleich ist es eine sehr angespannte und auch bedrohliche, bisweilen beängstigende Situation.

Was bedeutet das konkret für den Alltag?

Tagsüber geht das Leben weiter – die Cafés sind dann erst recht voll, viele gehen joggen. Sie wissen: Jetzt ist die Zeit, zu leben und zu genießen – aber eben immer mit hoher Aufmerksamkeit. Die Alarmsysteme sind heute so, dass man, wenn die Raketen von weiter weg herkommen, ein paar Minuten Zeit hat. Früher waren das nur 90 Sekunden. Das macht natürlich einen beträchtlichen Unterschied. Trotzdem ist der Alltag geprägt davon, dass man immer mit dem nächsten Angriff rechnet. Der eigene Radius ist begrenzt, das Land befindet sich im Ausnahmezustand, man ist ständig darauf gefasst, dass ein neuer Alarm ertönt.

Auch das Vertrauen in die hiesige Luftabwehr ist groß. Sie ist natürlich nicht zu 100 Prozent sicher – kein System ist das. Es ist auch etwas anderes, ob die Huthi-Rebellen aus dem Jemen ein- oder zweimal in der Woche eine Rakete schicken, oder ob hier, wie in den ersten Nächten, 80, 90, 100 Raketen gleichzeitig kommen. Dann kommt ein Sicherungssystem, das um die 90% der Raketen abfängt, trotzdem spürbar an seine Grenzen und das haben die Menschen ja auch deutlich erfahren.

Niemand glaubt an absolute Sicherheit hier. Die Bilder aus den Küstengebieten, aus Tel Aviv und aus Haifa sind wirklich erschreckend und führen einem vor Augen, was passiert, wenn eine Rakete nicht abgefangen wird – oder gar mehrere auf einmal. Es ist zugleich natürlich genau das, worauf der Iran mit seinen Angriffen, die oft zivile Gegenden betreffen, zielt.

Sie sind zugleich Pfarrerin, Studienleiterin – und Mutter. Wie erleben sie in den unterschiedlichen Rollen die angespannte Entwicklung?

Als Pfarrerin versuche ich vor allem, Gesprächsräume offen zu halten. Es gibt momentan ein Versammlungsverbot aus Sicherheitsgründen – das erinnert ein wenig an Corona, was nicht unbedingt eine gute Erinnerung für die Gemeinde ist. Wir versuchen, Formate ins Digitale zu verlegen oder in kleinem Rahmen möglich zu machen. Und natürlich stehen wir allen für verschiedene Formen der Seelsorge offen.

Als Studienleiterin betreue ich momentan eine kleine Gruppe von vier Studierenden und einer mitreisenden Ehefrau. Sie haben schon eine gewisse Übung, weil sie seit letztem Sommer hier sind – den Iran-Angriff im Oktober haben sie bereits miterlebt, auch die Huthi-Raketen der letzten Monate. Sie sind vor allem enttäuscht, dass ihnen die letzten Wochen ihres Studienprogramms im Grunde genommen werden. Vieles, was wir inhaltlich noch vorhatten, wird nicht oder nicht in dieser Form möglich sein. Wir versuchen, so viel wie möglich weiterzuführen und begleiten die Studierenden in dieser neuen, schwierigen Form des Alltags und auch in der Abwägung und Organisation möglicher verfrühter Ausreisen.

Für unsere drei Kinder versuchen meine Frau und ich, ihnen einen Alltag zu gestalten und sie trotzdem auf die Situation vorzubereiten. Wir haben auch mal eine Nacht im Schutzraum geschlafen, um nicht mehrmals hin- und herrennen zu müssen, denn unser Schutzraum befindet sich eine Etage über unserer Wohnung. Die Schulen wurden von jetzt auf gleich geschlossen – das ist für die Kinder irritierend, weil ihnen die Struktur wegfällt und die versuchen wir aufzufangen. Im Alltag sind die Kinder trotzdem einfach Kinder, aber man merkt die Anspannung an den Dingen: Die Kinder werden geräuschsensibel. Wir sind erst seit einigen Monaten im Land, die Geräusche sind noch neu. Ein Krankenwagen klingt hier anders als in Berlin, und die Kinder wissen nicht sofort: Ist das ein Krankenwagen oder der Handy-Alarm, der auf Sirenen hinweist?

Wer sind die Menschen, die noch in die Gemeinde kommen? Und womit beschäftigen sie sich: mit der eigenen Situation oder eher mit politischen und moralischen Fragen zu Gaza und dem Iran?

Unsere Gemeinde ist formal eine klassische Auslandsgemeinde: also evangelisch und deutschsprachig. Vor dem 7. Oktober waren wir stark vom Tourismus geprägt – sonntags kamen oft 150 bis 200 Menschen, rund drei Viertel davon waren Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland. Das hat sich grundlegend verändert. Jetzt feiern wir mit etwa 20 Menschen. Meistens sitzen wir vorne im kleinen der Kirche. Es ist intimer, familiärer – aber eben ganz anders. Die Menschen, die jetzt noch da sind, sind auf verschiedene Weisen fest in der Region verwurzelt und somit auch mit den Themen und Konflikten verbunden.

Und so sind auch die Sorgen jetzt ganz vielfältige. Natürlich gibt es Sorgen um die eigene Sicherheit. Der Iran wird von den meisten auch in der israelischen Gesellschaft als existentielle Bedrohung wahrgenommen. Anderes aber wird sehr differenziert und besorgt diskutiert. Deutliche Sorge besteht zum Beispiel darüber, dass das Leid in Gaza und die Gewalt durch Siedler in der Westbank in den Hintergrund tritt.

Besonders ist: Wir teilen uns das Gebäude mit unserer palästinensichen Partnerkirche, der Evangelisch Lutherischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land (ELCJHL). Viele unserer Gemeindeglieder arbeiten in Kontexten, in denen sie stark in palästinensisch-christliche Zusammenhänge eingebunden sind.

Deshalb ist die Konfliktlage auch in der Gemeinde spürbar – nicht konfrontativ, sondern in Form einer gelebten, oft angespannten, aber immerhin wahrgenommenen Multiperspektivität. Es geht längst nicht mehr darum, einander zu überzeugen, sondern wenigstens präsent zu sein, mit all den unterschiedlichen Blickwinkeln. Das können sie, weil es abgeleitete Positionen sind – nicht Palästinenser und Israelis sitzen nebeneinander, sondern Menschen, die in diesen Kontexten arbeiten und mit etwas mehr innerer Distanz dieses Nebeneinander aushalten können.

Auch ganz konkrete Alltagssorgen beschäftigen die Gemeinde: Wir haben einen kleinen Sozialausschuss, der sich um Menschen in der Westbank kümmert – etwa, wenn Arztkosten nicht gedeckt sind oder Wege versperrt sind. Da versuchen wir zu helfen. Im Kleinen. Pragmatisch.

Welche Rolle spielt Kirche in einem so komplexen Konfliktfeld?

In der hiesigen Gesellschaft wird Kirche nicht als eigenständiger gesellschaftlicher Player wahrgenommen, wie das zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Sie ist Teil der internationalen Gemeinschaft. Von dieser Community wird erhofft und vielleicht erwartet, dass sie Räume für multiperspektivisches Denken öffnet – gerade, weil direkt Betroffene das oft gar nicht (mehr) leisten können. Dass sie andere Akzente setzt und sich gleichzeitig mit zu starken Meinungen oder gar vermeintlichen Lösungsansetzen zurückhält.

In unserer Gemeinde versuchen wir aber, das Nebeneinander der Perspektiven zu ermöglichen: Hier passiert etwas, das andernorts kaum mehr möglich ist – die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite. Im Kirchengemeinderat berichten alle aus ihren Kontexten. Die Perspektiven sind unterschiedlich, manchmal schwer auszuhalten. Aber sie werden nebeneinandergestellt, angesprochen und ausgehalten.

Das ist von denen, die hier leben und tief involviert sind, kaum mehr zu verlangen. Aber von uns schon. Wir sind die, die diese kaum aushaltbare Spannung halten müssen – weil es nicht in Gänze unsere eigene ist.

Gleichzeitig sind Sie aber auch Anlaufstelle für Deutsche vor Ort?

Ja, ganz klar. Für alle, die hier sind, sind wir ansprechbar. Unsere wöchentlichen Gemeindeabende zu ganz unterschiedlichen Themen, sind auch ein Treffpunkt, um sich auszutauschen. Gerade Familien erleben, dass ihre Lebensrealität hier ganz anders aussieht als geplant. Sie finden sich in einer politischen Wirklichkeit wieder, die schwer auszuhalten und zu gestalten ist – übrigens auch schon vor diesem Freitag, als Israel den Iran angegriffen hat. Da hilft es, dass die Gemeinde Angebote macht.

Sie waren schon früher oft in Jerusalem, haben hier studiert. Wie hat sich Ihr theologisches Denken durch die neue Rolle als Auslandspfarrerin und Studienleiterin verändert?

Ganz grundsätzlich ist es eine prägende Erfahrung, nicht Teil der religiösen (und damit gesellschaftlichen) Mehrheit zu sein. Das merken auch unsere Studierenden sofort:

Ein Beispiel: Wenn unsere Studierenden in der Woche Gottesdienst feiern wollen, stehen sie vor der Wahl: Gehe ich in den Hebräischkurs oder in den Gottesdienst? Denn hier beginnt die Woche am Sonntag. In Deutschland stellt sich diese Frage kaum. Es kann auch gut sein, dass einem Adventssonntag oder einem anderen Feiertag, ein Prüfungstermin liegt. Aber muslimische und jüdische Studierende kennen solche Herausforderungen in Deutschland nur zu gut.

Theologisch beschäftige ich mich seit vielen Jahren und in dieser Rolle besonders mit der tiefen Verbundenheit von Judentum und Christentum, vor allem mit den vielfältigen Weisen, wie christliche Traditionen mit jüdischen verbunden und aus ihnen entstanden sind. Es ist der Kernpunkt des Programms von "Studium in Israel", diese Verbundenheit zu studieren.

Wenn man plötzlich "typisch christliches" in der anderen, älteren Tradition erkennt, dann kann das irritieren – auch ganz positiv: Wie viel reicher ist unsere Tradition als wir bisweilen wahrnehmen? Aber auch: Was heißt dann eigentlich "christliche Identität"? Das erleben die Studierenden und wir in ihrer Begleitung hier immer wieder – akademisch reflektiert und im Alltag erfahren.

In Deutschland diskutiert die EKD über "Frieden mit" oder "Frieden ohne Waffen". Welche Friedensvorstellungen begegnen Ihnen vor Ort? Gibt es überhaupt konkrete Bilder von Frieden unter den Menschen?

Ehrlich gesagt: Momentan wenige. Für konkrete Vorstellungen von Frieden braucht es zumindest ein Minimum an Hoffnung oder Perspektive – und genau das fehlt hier häufig. Die Menschen sind vor allem eines: sehr, sehr müde, verzweifelt und perspektivlos.

Was man aber hört, ist: Frieden existiert, wenn überhaupt, nur zusammen mit anderen Bedingungen. Manche sagen: "Frieden funktioniert nur in Freiheit." Andere: "Frieden funktioniert nur mit Sicherheit."

Ich nehme eine gewisse Erschöpfung gegenüber internationalen Diskussionen wahr – gerade auch im deutschen Kontext, in denen Frieden manchmal wie eine isolierte, halbromantische Idee behandelt wird: als etwas, das man "nur wollen muss" oder mit genügend gutem Willen einfach schaffen könnte. Hier ist aber deutlich: Frieden ist kein idealer Traumzustand, man nur irgendwie näherkommen muss. Er hat Voraussetzungen. Es braucht Bedingungen, damit Frieden überhaupt denkbar wird – Sicherheit, Bewegungsfreiheit in der Westbank, Perspektiven und die Freiheit der Geiseln.

Philosophisch stimmt es zwar: Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Aber die Abwesenheit von Krieg wäre hier schon ein großer, erster Schritt.

Gibt es dennoch Gruppen oder Initiativen, die aktiv für Frieden arbeiten?

Ja, ganz eindeutig. Es gibt eine ganze Reihe von Initiativen, die sehr stark friedensaktivistisch unterwegs sind. Sie halten mit einem geradezu überzeugten Trotz ihre Überzeugungen hoch. Sie sagen sehr bewusst: Frieden braucht Verständigung, braucht Brücken, braucht das Festhalten an Kontakten, gerade über die scheinbar unüberwindbaren Gräben hinweg, die uns auferlegt werden. Es sind oft inter-religiös ausgerichtete Gruppen.

Ende Mai gab es einen großen interreligiösen Marsch für Frieden und Menschenrechte, am 19. Juni ein interreligiöses Friedensgebet online. Und es gab zuletzt auch eine größere Friedenskonferenz in Jerusalem, in der versucht wurde, kreativ über neue Wege nachzudenken.

Diese Gruppen sind nicht die Mehrheit – aber sie sind mit großer Überzeugung unterwegs. Ihre Festigkeit und Überzeugung, mit der sie agieren, sind sehr beeindruckend und berührend.

Wie blickt die israelische Gesellschaft auf die Lage in Gaza – gibt es Raum für Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung dort?

Das ist sehr unterschiedlich. Die israelische Gesellschaft ist unwahrscheinlich ausdifferenziert, wenn man nicht sogar sagen will: zersplittert. Und zwar entlang des gesamten Spektrums politischer, sozialer und religiöser Positionen.

Für viele steht Gaza zunächst in unmittelbarem Zusammenhang mit dem 7. Oktober – und damit mit Trauma und mit den Geiseln. Doch zunehmend rückt auch die humanitäre Lage in den Blick, wird diskutiert und kritisiert.  Das zeigt sich besonders in den Protestbewegungen, die ja schon lange vor dem 7. Oktober 2023 gegen den geplanten Justizumbau auf die Straße gegangen sind. Diese Bewegung ist inzwischen stark zurückgekehrt – und sie hat sich inhaltlich erweitert.

Heute vermischen sich innenpolitische Kritik, die Forderung nach der Rückkehr der Geiseln und vermehrt auch der Ruf nach einem Ende des Krieges – auch mit Blick auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza.  An der Entwicklung dieser Proteste lässt sich gut ablesen, wie sich das gesellschaftliche Klima verändert.

Kleine Alltagsbeobachtungen, Sticker an Laternenpfählen zum Beispiel, zeigen aber die ganze Breite des Meinungsspektrum. Die Haltung vieler Menschen hängt davon ab, wie persönlich sie betroffen sind – von Verlust, Angst oder vom andauernden Reservedienst. Es gibt immer noch mehrere zehntausend Menschen im Reservedienst – das bedeutet zehntausende Familien, die regelmäßig für längere Zeit ihre Familienmitglieder beider Geschlechter mehrere Tage oder Wochen nicht sehen. Das prägt natürlich die Wahrnehmung und erschwert es, den Blick zu weiten und die Perspektive des Gegenübers einzunehmen – insbesondere, wenn man sich durch genau dieses Gegenüber bedroht fühlt.

Die Gleichsetzung "Gaza = Hamas" ist in der Breite nicht so pauschal vorhanden, aber die Verbindung besteht in vielen Köpfen. Gaza ist mit dem 7. Oktober verbunden. Und doch gibt es zahlreiche Stimmen, die Mitgefühl ausdrücken, die wissen, dass es selbst in Zeiten der massiven Angriffe aus dem Iran nur wenige Kilometer südlich noch anderes Leid gibt.

Wir als internationale Kirche und Teil eines ökumenischen Netzwerks versuchen, genau diese Kräfte zu stärken – diejenigen, die die Brücken halten wollen, die bereit sind, mehr als eine Perspektive zu sehen und auszuhalten.

Was fehlt aus deutscher Perspektive in der Einschätzung dieser Situation am meisten?

Im internationalen, gerade deutschen Diskurs geht mir das Urteilen und Stellungbeziehen oft zu schnell. Natürlich ist das ein pauschaler Satz, aber man kann es gar nicht häufig genug sagen: Die Lage ist komplex. Es gibt keine Position, aus der heraus sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt, das einfache Lösungen präsentiert und immer eindeutig sagt, was richtig und was falsch ist.

Auszuhalten, dass man, wenn man das eine sagt, eigentlich auch das andere sagen oder zumindest mitdenken muss – dass man im Grunde keinen Satz zu Ende bringen kann, weil alles so komplex und ineinander verstrickt ist. Das ist unglaublich schwer, aber letztlich das, was nötig ist. Es lohnt sich oft auch zu fragen:

Bei manchen Diskussionen oder auch Demonstrationen frage ich mich auch: Worum geht es hier eigentlich? Geht es um die Menschen vor Ort – oder werden hier stellvertretend andere Debatten geführt? Geht es um echtes Interesse – oder um das Gefühl, ja den Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen? Gerade vor dem Hintergrund deutscher Geschichte, in der man lange nicht auf der richtigen Seite stand, scheint es mir manchmal, als wolle man nun unbedingt alles richtig machen.

Das ist menschlich sehr verständlich – aber in einer so komplexen Situation fast unmöglich. Und wenn dann mit großen, pauschalen Begriffen hantiert wird, hilft das hier vor Ort leider überhaupt nicht weiter.

Was würde helfen, sich dieser Komplexität zu stellen – für den deutschen Diskurs?

Das Einfachste und vielleicht trotzdem komplizierte ist: mehr Perspektiven hören, als man geplant hat. Keine Eindeutigkeiten. Mut zur eigenen Verunsicherung. Und die Befreiung vom Zwang, sich ständig positionieren zu müssen und zu allem etwas sagen zu wollen.

Erst einmal sagen: Ich höre mir das an, ich nehme das wahr – und das in einer Haltung, die sich bewusst ist: In dem Moment, in dem ich eine Perspektive höre, weiß ich, es gibt noch viele andere. Das ist nicht einfach, gerade hier nicht. Denn die Menschen, denen wir zuhören, wollen meist nicht nur, dass wir zuhören – sie erwarten mindestens Empathie, oft aber auch Zustimmung. Diesen Grat zu gehen und zu sagen: Meine Empathie ist sehr weit – aber das heißt nicht, dass ich allem sofort inhaltlich zustimme – das ist unglaublich schwer. Umso verständlicher ist es, dass es oft einfacher erscheint, sich für "diese" oder "jene" Seite zu entscheiden.

Wie gelingt das in der Praxis – dieses Aushalten von Widersprüchen?

Das muss nicht immer eine einzelne Person können. Das schätze ich sehr an unserer Gemeinde: Auch bei uns im Team gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. Wir arbeiten hier mit dem Studienprogramm und haben dadurch thematisch einen klaren Fokus – was aber nicht heißt, dass wir pro oder contra irgendetwas sind. Wir schaffen einen Raum, in dem unterschiedliche Perspektiven vorkommen und wir sie so in jedem Fall wahrnehmen.

Es gibt eine Tendenz im Diskurs, Multiperspektivität auszuhebeln und durch Harmonie zu ersetzen. Aber das funktioniert nicht. So ist die Wirklichkeit nicht. Das auszuhalten ist unglaublich schwer und man stößt an Grenzen. Das gehört dazu. Aber es entbindet einen nicht davon, es weiter zu versuchen und sich jeder vermeintlichen Eindeutigkeit zu widersetzen.

Zur Person: Dr. Milena Hasselmann

Milena Hasselmann ist seit März 2025 Pfarrerin in Jerusalem. In Stellenteilung mit ihrer Frau leitet sie dort das Studienprogramm „Studium in Israel“ an der Hebräischen Universität und ist Pfarrerin an der Evangelischen Erlöserkirche. Im Rahmen von „Studium in Israel“ studieren jedes Jahr Studierende an der Hebräischen Universität und beschäftigen sich mit der Vielfalt jüdischer Tradition in Geschichte und Gegenwart und ihrer Bedeutung für das Christentum und christliche Identität. Das Programm steht allen Konfessionen offen. Es bietet außerdem ein 3-monatiges Fortbildungsprogramm für kirchlich Beschäftigte an.

 

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