1. Station: Tel Aviv

Der "Hamas-Tunnel" erfüllt seinen Zweck hier nicht wirklich: nach wenigen Metern hat man die relativ geräumige, mit Aufklebern wie "Bring them back now" übersäte, schwach beleuchtete Tunnel-Nachbildung durchschritten und steht wieder auf dem "Platz der Geiseln", mitten in Tel Aviv. Wie anders muss der Druck, die Ungewissheit der Geiseln in Gaza sein, jemals wieder Tageslicht zu sehen, falls sie im Tunnelsystem gefangen sind.

Hier auf dem Platz in Tel Aviv haben Familien der Geiseln ein Zentrum, in dem sie einander unterstützen und bereitwillig Auskunft geben.

Dani Miran zum Beispiel: "Bring Omri home!" steht auf seinem T-Shirt über dem Bild seines Sohnes und dessen kleiner Tochter. Den langen weißen Bart hat sich Dani wachsen lassen, weil Omri in Gaza keinen Rasierapparat hat. "Wenn er wieder kommt, dann rasiere ich den Bart ab", sagt Dani. Mehr als eineinhalb Jahre liegt der Terrorüberfall der Hamas nun zurück, doch Dani erzählt die Geschichte, als erzähle er sie zum ersten Mal.

Was ihm Kraft gebe, das auszuhalten? Nicht die Regierung jedenfalls; die benutze ihre Kinder, die Geiseln, nur für ihre Zwecke, um den Krieg weiter zu führen. Das Volk Israel sei es, das jetzt zusammenhalte, sagt Dani, und das gebe ihm Kraft. Er selbst lebe ja eigentlich im Norden des Landes. Aber hier habe ihm jemand kostenlos eine Wohnung zur Verfügung gestellt, dass er in Tel Aviv mit den Familien anderer Geiseln zusammen sein und sich engagieren könne. Der Premierminister habe die Geiselfamilien nicht besucht, der Papst dagegen habe sie eingeladen; und er zeigt ein Bild, das ihn im Herbst 2023 zusammen mit Papst Franziskus zeigt. Es ist der Abend des Tages, an dessen Morgen Franziskus starb.

Dani Miran zeigt ein Bild von seinem Besuch beim Papst
"Bring Omri Home!" Dani Miran zeigt ein Bild vom Besuch beim Papst.

2. Station: Nir Oz

Nir Oz ist einer der Kibbuzim, die am 7. Oktober 2023 überfallen wurden. Die israelische Armee traf hier erst ein, nachdem die Angreifer bereits seit Stunden wieder abgezogen waren, nachdem sie 47 Menschen getötet und 76 entführt, Häuser geplündert und angezündet hatten. Gaza ist hier ganz nah; zwischen Kibbuz und der jetzt unüberwindbaren Grenze liegt ein weites Feld. Jetzt sind hier ständig im Abstand von wenigen Minuten die dumpfen Schläge der Bombenabwürfe auf den Gazastreifen zu hören.

Jiftah, der hier geboren wurde, führt durch das Gelände, auf dem derzeit nur die Gartenanlagen gepflegt werden. Auch eine Gruppe israelischer Soldaten wird gerade zu den ausgebrannten Häusern geführt und informiert. An die Briefkästen vor dem Speisesaal wird derzeit keine Post geliefert. Stattdessen Aufkleber an den Postfächern in verschiedenen Farben, die Auskunft über ihre Inhaber geben: getötet, entführt, zurückgekehrt…

Gefragt, welche Perspektive er sehe, meint Jiftah: Zuerst muss das jüdische Volk zusammen finden. Eine Alternative zum Zusammenleben mit den Palästinensern sieht er nicht. Zwischen Jordan und Mittelmeer lebten etwa gleich viele Juden und Araber. Einen Schlüssel für eine andere Zukunft sieht er in pädagogischen Konzepten, in einer Erziehung zum Frieden.

Die Postfächer: getötet, entführt, zurückgekommen.
Die Postfächer: getötet, entführt, zurückgekommen.

3. Station: Traumazentrum

Für den Umgang mit seelischen Wunden ist das Traumazentrum Sha’ar Ha Negev bei Sederot zuständig.

Vor dem Krieg seien es von 10.000 Einwohnern etwa 250 gewesen, die hier zur Behandlung kamen, jetzt 3.000. Die Therapeutin spricht von der großen Enttäuschung, die der Angriff auch ausgelöst habe: es sei doch ein großes landwirtschaftliches Projekt direkt am Gazastreifen geplant gewesen. Da hätte man viele Arbeiter aus Gaza gebraucht. Sie sollten dort künftig besser Schulen und Krankenhäuser bauen statt Tunnel. Aber sie hätten dort offenbar andere Werte, meint sie.

4. Station: Grab Jesu in Jerusalem

Eine ganz andere Trauer verbindet in diesen Tagen die Christen des Heiligen Landes: zwei Tage nach dem Tod von Papst Franziskus sitzen sie einträchtig am Grab Jesu in Jerusalem beisammen: Katholiken, Griechisch-Orthodoxe, Armenier, Syrisch-Orthodoxe, Kopten, Äthiopier, Lutheraner. Welch ein Zeichen ökumenischen Zusammenhalts an einem Ort, an dem sich Vertreter mancher dieser Gemeinschaften in früheren Jahren bei Prozessionen auch schon verprügelt haben.

Geleitet wird der Trauergottesdienst vom Lateinischen Patriarchen des Heiligen Landes, Pierbattista Pizzaballa. Er hatte vor eineinhalb Jahren der Hamas angeboten, ihn als Geisel zu nehmen im Gegenzug zur Freilassung aller anderen. Manche sehen Pizzaballa als den nächsten Papst. "Wenn der Name so oft genannt wird, dann wird er’s nicht" flüstert ein Alt-Bischof seinem Nachbarn ins Ohr. Es bleibt spannend!

Patriarch Pierbattista Pizzaballa zieht in die Grabeskirche ein
Patriarch Pierbattista Pizzaballa zieht in die Grabeskirche ein. Manche sehen ihn als den nächsten Papst.

5. Station: Wings of Hope in Bethlehem

Könnte man das Trauma doch einfach so in den Sand setzen!

Bei Wings of Hope for Trauma in Bethlehem spielen Sandkästen eine wichtige Rolle. "Nicht fotografieren!" warnt die Leiterin Ursula Mukarker die Besucher.

Die Sandkästen geben Auskunft über die Tiefen der Seele von Kindern, die Schlimmes erlebt haben. Durch viele Kästen zieht sich eine Trennwand: auf der einen Seite die israelische Flagge, schöne Häuser, Barbiepuppen am Swimmingpool, daneben Panzer, Waffen, auf der anderen Seite die palästinensische Flagge: kaputte Häuser, zerzauste Bäume, die Puppen liegen kopfüber im Sand, Trostlosigkeit. Aber auch Hoffnungsbilder mit Blumen und Schmetterlingen. Auf Initiative auch der deutschen Außenministerin Baerbock seien etwa 100 Kinder aus Gaza nach Bethlehem gekommen. Acht davon konnten zur Therapie bei Wings of Hope kommen. Nein, so etwas habe man noch nicht erlebt: so schwere Traumata; Kinder, die kaum erreichbar waren. Nein, man wolle, man könne nicht weitergeben, was man da gehört habe. 

6. Station: Ev.-luth. Weihnachtskirche in Bethlehem

Aber auch in der Westbank sei die Situation nun so schlimm wie nie zuvor, sagt Munther Isaac, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem.

Mit seiner Weihnachtspredigt 2023 und seiner Krippeninstallation "Christ in the rubble" ist er international bekannt geworden. In wenigen Wochen soll er die Pfarrstelle in Ramallah antreten. Am Ostermontag wollte er mit seiner Familie dorthin. Dreieinhalb Stunden hätten die Soldaten sie dort in der Hitze warten lassen. Dann mussten sie unverrichteter Dinge wieder den Rückweg antreten. Immer mehr solcher Checkpoints innerhalb der Westbank, Übergriffe der Soldaten: "Die Westbank wird ein zweites Gaza" sagt er. Dafür gebe es immer mehr Indizien. In Deutschland wird manchmal gefragt, warum sich die Christen des Heiligen Landes nicht deutlich gegen die Hamas aussprechen würden. Sei das zu gefährlich?

Die Enttäuschung der Christen im Heiligen Land

"Nein, es ist überhaupt nicht gefährlich", ruft Munther Isaac. "Präsident Abbas hat es gestern getan, er hat die Hamas sogar als ‚Hundesöhne‘ bezeichnet und aufgefordert, die Geiseln frei zu lassen." Die Oberhäupter der Kirchen hier hätten die Gewalt verurteilt und das christliche Netzwerk Kairos Palästina hat sich in seinen Veröffentlichungen gegen die Herrschaftsform der Hamas ausgesprochen. Was soll die Frage also, meint er. Wenn Palästinenser gewaltsam Widerstand leisten, selbst wenn es legitim innerhalb besetzten Gebietes ist, würden sie oft als Terroristen bezeichnet. Wenn sie zivilen Widerstand im Sinne von Boykott befürworteten, würden sie dämonisiert.

"Ihr meint, dass die Muslime das Problem seien: Aber schaut in die Geschichte!" fordert er auf: "Juden und Muslime haben immer zusammen gelebt. Es waren Christen, die mit Juden ein Problem hatten!" Er macht deutlich, dass er es aufgegeben hat, etwas von Christen aus Europa zu erwarten: in den letzten 77 Jahren hätten sie nicht verurteilt, was hier im Land vor sich gehe. Und auch jetzt: Schweigen, wenn Millionen Menschen Nahrung und medizinische Hilfe verweigert werden.

"Wir werden für europäische Schuld geopfert" ruft er. Das Gedenken an Bonhoeffer in Deutschland in diesem Jahr empfindet er als eine Art Missbrauch: "Ihr seid nicht bereit, seinen Weg zu gehen." – Munther Isaac hatte keinen Wert auf die Begegnung mit Gästen aus einer deutschen Landeskirche gelegt. Weiß er doch, dass das, was er zu sagen hat, in Deutschland kaum jemand hören will – ganz anders als in den USA und vielen anderen Ländern, wo er oft zu Gast ist.  

Die Evang.-Luth. Weihnachtskirche in Bethlehem
Die Evang.-Luth. Weihnachtskirche in Bethlehem, in der Munther Isaac Pfarrer ist.

Diese Erfahrung macht sein Vorgänger Pfarrer Mitri Raheb schon lange. Seit vielen Jahren wird der Gründer und Direktor der Universität Dar al Kalima (Haus des Wortes) schon nicht mehr zum Kirchentag eingeladen. Eine "große Enttäuschung" nennt der nun aber auch relativ aktuelle Begegnungen und erzählt von einem Bischof aus Deutschland, der bei einem Besuch in Bethlehem Gewaltlosigkeit gepredigt habe, zurück in Deutschland aber Waffenlieferungen an die Ukraine befürwortet habe. "Was muss hier noch passieren, bis man in Europa die Stimme erhebt?!" fragt er.

Nur wenigen Christen aus der Westbank war es erlaubt, die Checkpoints zu überqueren und Ostern in Jerusalem zu feiern. Christen aus Deutschland dagegen, dem Land, das 6 Millionen Juden ermordet hat, dürfen sich jederzeit überall in diesem Land bewegen. Für sie führt der Weg von Bethlehem nach Jerusalem ganz unkompliziert auf der Siedlerstraße über den Checkpoint.

So geht hier jeder seinen Weg, wie in einem dunklen Tunnel, in dem die anderen, in dem das Ganze nicht gesehen werden kann. Ein Tunnel, der nicht so rasch zu durchschreiten ist wie auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv; ein Tunnel, in dem die Zukunft in Dunkelheit gefangen ist. 

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