Weder eine Grüne noch ein Christsozialer kam bisher für ihn infrage: "Ich war noch nie wählen", gibt Ulrich K. (Name geändert) aus Würzburg zu. Der 25-Jährige glaubt:

"Politiker können sich in Menschen wie mich nicht hineinversetzen."

Ulrich K. lebt seit jeher prekär. Weil er kein Geld hatte, um eine Strafe zu zahlen, landete er sogar unlängst im Knast. Nur Menschen mit Armutserfahrung, meint er, könnten ihn verstehen. Und seine Situation verbessern. Doch die seien in der Politik nicht zu finden.

Abgeordnete in deutschen Parlamenten: Viele sind wohlhabend

In deutschen Parlamenten sieht es tatsächlich so aus: Das Gros der Abgeordneten hat einen akademischen Hintergrund, viele sind durchaus wohlhabend. Bräuchte es, um Menschen wie Ulrich K. bei der bevorstehenden Landtagswahl zum Wählen zu motivieren, mehr Kandidatinnen und Kandidaten, die selbst erlebt haben, was es bedeutet, arm zu sein?

So eine Frage stelle sich in der Praxis nicht, sagt der FDP-Bezirksgeschäftsführer für die Oberpfalz, Lars Kesenheimer. Man habe keine Infos "über die Armutserfahrung von Kandidaten"

Aber natürlich werde genau überlegt, wen man wo auf die Liste setzt, sagt Kesenheimer: "Die Kandidaten auf den Plätzen 1 bis 3 der Landtagsliste der FDP Oberpfalz sind Menschen mit Migrationshintergrund", informiert Kesenheimer. Für Liberale komme es darauf an, wo ein Mensch hinwill: "Nicht, wo jemand herkommt." Nach einer von der Tageszeitung "Die Welt" 2019 veröffentlichten Studie hatten Abgeordnete der FDP im Deutschen Bundestag zu mehr als 87 Prozent einen Hochschulabschluss - direkt dahinter folgten die Grünen.

Keine Auskünfte zu soziokulturellen Hintergründen

Die Frage, ob Menschen mit Armutserfahrung bei der Landtagswahl antreten werden, sorgt bei den Grünen für Irritationen. Man werde "zu den soziokulturellen Hintergründen unserer Listenkandidierenden keine Auskunft geben", sagt Eveline Kuhnert von den schwäbischen Grünen. Wobei sie versichert, dass Bayerns Grüne gezielt Bürger mit "Vielfaltsmerkmalen" ansprächen. Auch promovierte Juristen könnten Armutserfahrungen haben, gibt unterdessen Carsten Träger, Bundestagsabgeordneter und SPD-Chef in Mittelfranken, zu bedenken.

"Qua Verfassung vertritt jeder Abgeordnete grundsätzlich das ganz Volk, nicht Arme oder Reiche, Beamte oder Arbeiter", sagt der renommierte Passauer Politikwissenschaftler und Parteienforscher Heinrich Oberreuter. Von allen sei zu erwarten, dass sie sich in unterschiedliche Lebenslagen einfühlten.

Dies sieht Carsten Träger von der SPD anders:

"Es ist wichtig, Menschen mit Armutserfahrung aktiv an Politik zu beteiligen."

Es sei aber auch so: Das Thema sei schambehaftet. Wer einmal selbst betroffen war, spreche womöglich nicht gerne darüber.

Das Schicksal habe ihn nicht gerade verwöhnt, sagt Ulrich K. aus Würzburg:

"Und ich sehe in keiner Partei Menschen, die ähnlich harte Erfahrungen gemacht haben."

Die bräuchte es dem jungen Mann zufolge jedoch, um zu verstehen, warum Menschen in Not geraten. Frank Gübner von der CSU in München widerspricht ihm: "Grundsätzlich können sich Mandatsträger auch ohne persönliche Erfahrung in Bedürfnisse von Bürgern hineinversetzen." Ob ein CSU-Kandidierender Armutserfahrungen mitbringe, wisse er aber nicht.

Hürden sind enorm

Die Hürde für eine Kandidatur ist enorm. Etliche Sitzungen, Besuche, Auftritte. "Die Anforderungen, die die politische Arbeit spätestens bei der Bewerbung um Mandate mit sich bringt, sind hoch, zeitlich wie physisch", sagt der mittelfränkische Sozialdemokrat Träger. Für eine alleinerziehende, berufstätige Mutter stelle dies immense Herausforderungen dar. Die SPD versucht laut Träger, diese enorm hohen Hürden zum Beispiel mit Kinderbetreuung an Parteitagen zu senken: "Hier wäre jedoch noch mehr zu tun", räumt er ein.

Ulrich K. ist überzeugt, dass jemand, der niemals Not erlebt hat, die Qualen der Angst eines Menschen, dem akut Wohnungsverlust droht, nicht nachvollziehen kann. "Armut motiviert nicht zur Partizipation", meint dazu Heinrich Oberreuter. Die Zahlen geben ihm recht. 2018 gingen nur etwa 51,5 Prozent aller Arbeitslosen zu den damals anstehenden Wahlen - bei den Erwerbstätigen waren es 86 Prozent. Ob sich Arme von den Kandidaten nicht vertreten fühlen, müsste einmal wissenschaftlich untersucht werden, sagt Carsten Träger.

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fotobine am So, 09.07.2023 - 14:10 Link

Der Sozialstaat löst sich immer mehr auf: Erst wird das Sterbegeld abgeschafft, dann langsam die Rentenversicherung. In der Krankenversicherung wurden Versorgung von Augen und Ohren und Zähnen weitgehend ausgegliedert, man braucht da private Zusatzversicherungen. Die Arbeitslosenversicherung dient nur Arbeitern/Angestellten, doch im Nachhinein betrachtet nutzt sie den Arbeitgebern, die von Eingliegerungsmassnahmen und Kurzarbeitergeld profitieren. Ich kenn das, kaum fällt die Förderung weg, wird man rausgemobbt und soll sich in Luft auflösen. Am Ende kürzt man immer mehr seine Arbeitsstunden und bekommt dann weniger Krankengeld und Arbeitslosengeld und kaum eine Rente. Wir brauchen eine Gesellschaft die Eigeninitiative und Selbstvertrauen fördert und aufklärt wie man mit Geld wirtschaftet, welche Versicherungen Sinn machen, und Mut macht zum Arbeitseinsatz durch entsprechende Steuerfreibeträge und Förderung von Talent und Quereinstieg. Weniger teure Ausbildungen und Studien, mehr praxisorientierte Eignungstests und weniger Verwaltungsbürokratie. Ein gutes Beispiel ist die Biowelle bei Lebensmitteln. Tausende Vorschriften, Anträge, Abzeichen nur damit man die Chemiewelle des 20. Jahrhunderts überspringt und Naturprodukte wie zu Ururomaszeiten essen kann. Da können wir richtig stolz sein in unseren hochentwickelten Kulturländern. Und die Entwicklungsländer haben wir mit unseren Chemie-und Plastikabfällen vermüllt und mit unserer Idee der Wachstumswirtschaft geimpft. Doch letztlich sind sie nicht unsere Urlaubsländer, sondern politische Spielbälle wegen irgendwelcher seltenen Rohstoffen.
Und der Planet Erde wird immer begrenzter und wir vermehren uns wie die Kannikel nur mit Handies und der Vorstellung, wir brauchen mehr Luxus statt menschlicher Wertschätzung.
Brot für die Welt! Das klingt zu gut um wahr zu sein. Der Mensch lebt eben nicht von Brot allein.....also besser Brot mit Pille? Oder auf was haben Sie gestern oder in ihrem Leben verzichtet?