Seit sieben Jahren berät und begleitet die Sozialpädagogin und systemische Therapeutin Sabine Kopal Frauen im Stuttgarter Leonhardsviertel. Sie sind zwischen 18 und etwa 28 Jahre alt und als Prostituierte tätig. Knapp tausend solcher Frauen registrierte die Polizei 2022 in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Mehr als die Hälfte kommen demnach aus Rumänien, Bulgarien oder Ungarn, wobei Rumänien Herkunftsland von etwa einem Drittel der Stuttgarter Prostituierten ist.

Was die Prostituierten noch abhängiger macht

"Mittlerweile, nach Corona, gibt es immer mehr Analphabetinnen unter den Frauen", so Kopals Beobachtung. "Frauen, die kaum die Uhr lesen können und wenig Zeit- und Ortsempfinden haben." Das fordert nicht nur von Sozialarbeiterinnen eine hohe Frustrationstoleranz, wenn es beispielsweise um Verabredungen geht, sondern macht die Prostituierten noch abhängiger.

"Bei genauerem Hinsehen zeigt sich in den meisten Fällen, dass ein Zuhälter im Spiel ist, dem sie emotional gefügig ist, der die Organisation übernimmt und für die Frau Kosten verursacht, die sie zusätzlich zur Miete für Bordell und Unterkunft zu schultern hat", sagt die 35-Jährige.

Viele der jungen Frauen, die kaum Deutsch oder Englisch sprechen, stünden finanziell unter hohem Druck. Allein die Tagesmiete fürs Bordell mache etwa 140 Euro aus. Der Trend gehe dahin, mehr Pendlerapartments zu nutzen, die nach Kopals Angaben etwa 180 bis 200 Euro pro Woche kosten. Seit Corona hätten fast alle Prostituierten zusätzlich ihr Profil im Internet eingestellt. Auch der illegale Straßenstrich spielt eine nicht unbedeutende Rolle - laut Polizeistatistik hatte der im vergangenen Jahr in Stuttgart einen Anteil von 13 Prozent.

Machtgefälle zwischen Prostituierten und Freiern

Das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz sollte den Frauen helfen. In der Praxis sieht vieles anders aus. Gewalt gegen Prostituierte gibt es nach Kopals Erfahrung auch in ordnungsgemäß angemeldeten Bordellen immer wieder - trotz Notrufsystem, Sicherheitspersonal und gut sichtbaren Aushängen, die in mehreren Sprachen auf die Kondompflicht hinweisen.

Und selbst dann, wenn Freier weder prügeln, vergewaltigen noch beschimpfen, sieht Sabine Kopal ein Machtgefälle. "Meine Erfahrung ist, dass junge Frauen oft noch kaum eine Idee von ihrer eigenen Sexualität haben und es ihnen schwerfällt, Grenzen zu setzen", so die Sozialpädagogin. Gegen höhere Bezahlung setzten Prostituierte in Geldnot schon mal ihre Gesundheit aufs Spiel, etwa wenn der Freier auf Geschlechtsverkehr ohne Kondom besteht.

Bei Gesundheitsberatungen, die sie nach dem Prostituiertenschutzgesetz vornimmt, stellt Kopal Fragen wie: "Woran erkennen Sie es, wenn Sie eine Geschlechtskrankheit haben?" Nur eine von zwanzig Frauen habe ihr die richtige Antwort nennen können. Sehr häufig verlören Prostituierte das Gespür für den eigenen Körper. "Maximale körperliche Nähe in Verbindung mit maximaler emotionaler Distanz ist ein Widerspruch, mit dem man nur klarkommen kann, wenn man eine Form von Mechanismus entwickelt", erklärt die Therapeutin.

Hohe Hürden für selbstbestimmtes Leben

Anders als gesetzlich vorgesehen, seien viele Frauen nicht mit einer festen Wohnadresse angemeldet, was zu weiteren Problemen führt. "Wenn keine entsprechende durchgängige Aufenthaltsdauer und Mindestarbeitszeit in Deutschland nachweisbar ist, gibt es beispielsweise keinen Leistungsanspruch beim Jobcenter. Aus der Prostitution auszusteigen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist somit mit hohen Hürden verbunden", so Kopal. Wenn das dennoch gelingt, wenn Frauen eine neue Perspektive für sich entwickeln und die Kraft aufbringen, ihren Weg selbstbestimmt zu gehen, dann ist das das Schönste, was Kopal in ihrem Alltag erleben kann, sagt sie.

Als Mitglied im Verein Sisters, der bundesweit etwa 60 Frauen im Jahr erfolgreich beim Ausstieg aus der Prostitution hilft, wünscht sie sich auch hierzulande eine gesetzliche Regelung nach dem Nordischen Modell. Das Sexkaufverbot, das Freier und nicht Frauen kriminalisiert, wurde 1999 zuerst von Schweden eingeführt, von weiteren Ländern übernommen und vom EU-Parlament empfohlen. Denn Schweden hat damit nachweislich einen deutlichen Rückgang von Prostitution und Menschenhandel erreicht. Auch gesellschaftlich wurde dort längst umgedacht. Bereits in der Grundschule lernen Kinder, dass es Unrecht sei, Frauen für Sex zu kaufen.

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