Was ist wichtiger als die Freiheit? Diese Frage, die schon Martin Luther bewegte und ihn nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen dazu veranlasste, sich "Eleutherus" - "der Befreite" - zu nennen, durchzieht auch Angela Merkels neues Buch "Freiheit". Die ehemalige Bundeskanzlerin beschreibt darin ihren persönlichen Befreiungsmoment mit dem Ende der DDR. Doch während Luther Freiheit als existenzielles, unverfügbares Prinzip verstand, versteht Merkel Freiheit vor allem als politische und individuelle Selbstbestimmung.
Diese Spannung zwischen christlichem und politischem Freiheitsverständnis wirft die Frage auf: Was bedeutet es für die prominenteste Christdemokratin Deutschlands, Christin zu sein? Steht ihr modernes, politisch orientiertes Freiheitsverständnis im Widerspruch zur christlichen Tradition? Antworten bleibt ihr Buch weitgehend schuldig. Zwar finden sich vereinzelt Bekenntnisse wie:
"Ich glaube, dass es Gott gibt, auch wenn ich ihn oft nicht direkt erfassen oder spüren kann." (S. 354)
Doch statt einer tieferen Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und der Freiheit verlieren sich die folgenden Kapitel zunehmend in protokollartigen Aufzeichnungen politischer Treffen.
Merkels Glaube ist pragmatisch, nicht spirituell
In dieser zurückhaltenden Darstellung ihres Glaubens spiegelt sich eine grundlegende Entwicklung: Merkels Glaube erscheint weniger als spirituelle Erfahrung denn als pragmatische Haltung. Er legitimiert ihr langjähriges politisches Handeln in einer Mischung aus Demut und Entschlossenheit. Sie beschreibt ihren Glauben als Quelle ihrer Kraft, die ihr hilft, Verantwortung für "Mitmenschen und Schöpfung" zu übernehmen – eine Verantwortung, die aus dieser inneren Gewissheit ebenso erwächst wie aus der Fähigkeit, ihr gerecht zu werden.
Der bewusst gesprochene Zusatz "So wahr mir Gott helfe" im Amtseid unterstreicht diese Synergie von religiöser und politischer Autorität. Doch in der betonten Demut schwingt zugleich ein leises, aber unmissverständliches Selbstbewusstsein mit.
Als Pfarrerstochter in der DDR erlebte Merkel früh die Spannung zwischen kirchlicher Prägung und gesellschaftlicher Anpassung. Pfarrerskinder fielen auf, standen unter ständiger Beobachtung und galten als Außenseiter. Pfarrer galten als oppositionell, ihre Familien wurden entsprechend misstrauisch behandelt. Diese Erfahrungen prägten auch Merkel, die in der Schule einmal den Beruf ihres Vaters durch eine leicht veränderte Aussprache umdeutete und ihn als "Fahrer" bezeichnete (S. 36). Pfarrerskind zu sein bedeutete in der DDR Einschränkungen und Isolation – auch beim Zugang zu Jugendorganisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ), deren Mitgliedschaft oft Voraussetzung für ein Studium war.
Ist Merkel eine Pick-me-Christin?
Diese biografische Prägung prägt ihr späteres Verhältnis zu Glaube und Religion: Merkel distanziert sich von einer explizit christlichen Identität, ohne jedoch die christliche Wertebasis aufzugeben. Ähnlich dem Pick-me-girl-Phänomen, bei dem sich Frauen von anderen Frauen abgrenzen, um von Männern oder der Gesellschaft anerkannt zu werden, könnte man Merkel als Pick-me-Christin bezeichnen: Eine Politikerin, die ihre religiöse Identität in den Hintergrund stellt und nur dosiert einsetzt, um eine breite, eher säkulare Wählerschaft zu erreichen.
In humanitären Krisen, wie etwa 2015 beim Zuzug tausender syrischer Flüchtlinge, positioniert sie sich jedoch vorsichtig als Christin und verweist auf christliche Werte als Grundlage ihres Handelns. Diese strategisch vorsichtige Positionierung zeigt sich auch im Umgang mit ihrer ostdeutschen Herkunft. Während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft vermied sie eine explizite Ost-West-Polarisierung zugunsten einer gesamtdeutschen Perspektive – eine Haltung, die zwischen pragmatischer Klugheit und mangelnder Solidarität oszillierte.
Ähnliche Erwartungen an Politiker*innen und Pfarrer*innen
Aus ihrer persönlichen "Trilogie der Unfreiheit" – DDR, Diktatur, Pfarrerstochter – entwickelte Merkel nach der Wende eine "Trilogie der Freiheit": Bundesrepublik, Demokratie und eine pragmatisch gelebte christliche Identität. Diese Wandlung zeigt, wie eng persönliche Emanzipation und politische Verantwortung miteinander verwoben sein können.
Sie zeigt auch, dass der Glaube – so gering sein Einfluss manchmal erscheinen mag - ein großes Potenzial hat, gesellschaftliche Transformationsprozesse zu begleiten und mitzugestalten. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Erwartungen an Politiker*innen zunehmend denen ähneln, die früher an Pfarrer*innen gerichtet waren: Bescheidenheit, Demut und moralische Integrität.
Angela Merkels Buch "Freiheit" gibt einen Einblick in diese Entwicklung - bleibt aber, was den Zusammenhang von persönlichem Glauben und politischem Handeln betrifft, eher eine Andeutung als eine vertiefte Reflexion. Es lädt aber dazu ein, weiter über die Rolle von Freiheit und Glauben in der modernen Politik nachzudenken.
Angela Merkel, Beate Baumann. Freiheit. Kiepenheuer & Witsch 2024. 736 Seiten. 42 Euro.
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