Schon als Kind hatte ich jeden 7. Januar damit zu kämpfen, vom Weihnachtsfest im Regen stehengelassen, also aus der guten, kerzenscheinerfüllten Stube der Zeit zwischen den Zeiten in die windige Trostlosigkeit des neuen Jahres hinausgestoßen zu werden. Anstelle guter Vorsätze stand bei mir stets ein Gefühl unsäglicher Trauer, dass es wieder einmal vorbei war mit der Herrlichkeit und der ganze Trott von vorn begann.

Ich meinte, Monopoly zu spielen und die Karte zu ziehen, auf der es heißt: "Gehe zurück nach der Badstraße!" Also ganz an den Anfang, dem für mich noch nie ein Zauber innewohnte, sondern immer nur die bange Befürchtung, dass es schlicht und einfach so weiter gehen würde mit dem Hamsterrad und den 7. Januaren, bis es eines Tages kein Weihnachten und keinen Januar mehr geben würde, weil das Spiel des Lebens unwiederbringlich zu Ende wäre.

Am 7. Jahr des Jahres 2025 stellte mir der Lauf der Dinge eine ganz besondere optische Trostlosigkeit in den Weg. Als ich morgens müde und genervt in der Nähe des nicht von ungefähr auf den Namen Plärrer getauften tumorähnlichen Nürnberger Verkehrsknotens an der Ampel stand, fiel mein Blick auf eine Grünfläche zwischen den Fahrstreifen. Dort lagen unzählige nach den Feiertagen entsorgte Weihnachtsbaumleichen aufgetürmt. Hätte es sich um ein von mir erschaffenes Kunstwerk gehandelt, hätte ich davor ein Schild mit der Inschrift "Memento mori" aufgestellt. "Denke daran, dass du sterben wirst."

Vergänglichkeit des Lebens

Oder anders gesagt: "Denke daran, dass du Bio­masse bist und eines Tages wie diese Christbäume entsorgt werden wirst – nicht gerade pietätlos auf den Müll geworfen, aber doch entsorgt. Denke daran, dass es dein Schicksal ist, Humus zu werden." Als besonders grotesk empfand ich die Tatsache, dass aufgrund der avancierten Veredelungstechniken der Weihnachtsbaumindustrie keiner dieser Christbäume nennenswert nadelte. Sie waren also alle im grünen Kleid mitten aus ihrem festlichen Leben gerissen worden. Gestern noch prachtvoll mit glitzernden Lichterketten und leuchtenden Kugeln geschmückt. Heute Biomasse, der Erde oder dem Krematorium geweiht. Das sind wir. Und das ist letztlich auch unser blauer Planet, der früher oder später von seiner Sonne versengt und verschlungen werden wird.

Weil es so ist, könnte das Christbaumleichenkunstwerk auch die Inschrift des Orakels von Delphi tragen: "Erkenne dich selbst." So, wie wir mit unseren Christbäumen umgehen, geht das Leben mit uns um. Manche lässt es ein wenig länger stehen. Manche wirft es schon vor Silvester hinaus.

Apropos Christbaumleichen. Ein wenig erinnerten mich die aufgetürmten Bäume am Morgen dieses 7. Januar sogar an eine pietätlose Pietà. Sie hätten als Karfreitagskunstwerk getaugt. Ich sah jedenfalls an diesem Januarmorgen auch die Leiche des Gekreuzigten in ihnen, dessen Schicksal sie ja doch irgendwie teilen. Erst finden Maria und Josef keinen Raum in der Herberge. Die Welt der Menschen ist ein derart ungastlicher und umkämpfter Ort, dass ihr Schöpfer nur bei den Tieren zur Welt kommen kann.

Dann leuchtet das Licht des Heilands eine Weile. Man schmückt sich mit ihm und feiert ihn. In seiner glänzenden Gegenwart wird einem warm ums Herz und königlich zumute. Dann entledigt sich die Welt seiner. Draußen vor der Stadt, wo die Todesstrafen vollstreckt werden. Vor den Baumleichen am Plärrer hätte also auch eine Tafel mit den Worten "Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum" stehen können. INRI.

Januarblues

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, das alles jetzt hinunterzieht, dann stehen Sie in demselben emotionalen Nieselregen wie ich jedes Jahr nach dem Ende der Weihnachtsfeiertage. Und wenn es Sie jetzt fröstelt, dann ist das zwar ungemütlich, aber vielleicht gut so, weil es erhellend sein könnte. Denn dann spüren Sie, wie schnell und wie erbarmungslos eine himmellose Welt erkaltet, in der die Weihnachtsfreude schon am 7. Januar zerfallen ist und in der unversehens die brutale Tages- und Hackordnung eines auf sich selbst gestellten weihnachts- und heilandsvergessenen Diesseits einkehrt.

Jetzt könnten Sie fragen, was man denn dagegen machen soll. Hat nicht alles seine Zeit? Gehört zum Erwachsenwerden nicht auch die Erkenntnis, dass man die Feste feiern soll, wie sie fallen, dass Weihnachten irgendwann vorbei ist, dass danach unweiger­lich wieder der Ernst des Lebens einkehrt und dass der festlose Alltag mit seinen Herausforderungen eben stoisch, tapfer und mit zusammengebissenen Zähnen gemeistert sein will, bis sich der nächste festliche Höhepunkt einstellt?

Und natürlich könnten Sie auch fragen, was man mit Christbäumen anderes machen soll, als sie irgendwann zu entsorgen. Sie könnten fragen, ob ich allen Ernstes für die Erdbestattung von Weihnachtsbäumen plädiere. Nein, das tue ich nicht. Aber ich würde sagen, dass zu einer kirchenjahresfestkreissensiblen Christbaumkultur zumindest der Versuch gehören könnte, das häusliche Bäumchen so zu pflegen und zu päppeln, dass es bis zum wirklichen Ende der Weihnachtszeit, also bis Mariä Lichtmess, will heißen bis zum 2. Februar durchhält.

Viele hochgezüchtete, nicht all zu früh geschlagene und nicht all zu weitgereiste Christbäume packen das ohne Weiteres, wenn man ihnen nicht zu sehr und zu überheizt zu Leibe rückt. Was mich selbst anbelangt, so segnet mein Christbaum idealerweise an Lichtmess alt, lebenssatt und getrost das Zeitliche. Meist bleibt er danach noch ein paar Tage als Anfeuerholz im Haus. Ob seiner Baumwürde die Zerkleinerung und Verfeuerung eher gerecht wird als die Abholung durch die Sonderbiomüllabfuhr, weiß ich nicht. Ich hoffe es.

Nachhaltige Christbaumphase

Übrigens hatte ich vor einigen Jahren sogar eine Christbaumphase, die sich durchaus mit dem Wort "nachhaltig" schmücken kann. Meine Frau und ich kauften eine Zeitlang in der Baumschule eingetopfte Bäumchen. Über Weihnachten schmückten wir sie. Danach pflanzten wir sie mangels eigenem Garten im benachbarten Wald ein. Die Nachhaltigkeitsphase endete, als die grüne Stadt Erlangen eines Januars in einer Baumfällaktion, deren tieferer Sinn sich dem unkundigen Beobachter nicht erschloss, das just eingepflanzte Bäumchen hirn- und herzlos schredderte. Frustriert kehrten wir zum abgesägten Christbaum zurück. Ein Kunstbaum kam aus ästhetischen wie aus ökologischen Gründen nie in Frage.

Und nun noch ein Wort zur schulterzuckenden Weihnachtsvergessenheit derer, die den nach- und unweihnachtlichen Lauf der Dinge so hinnehmen wie den Lauf des Lebens, der unweigerlich im Nichts zu enden scheint und gegen den mutmaßlich nur das Kraut des Festefeierns hilft. Das geile Leben, um den Tod zu vergessen, sozusagen. Das Pfeifen im dunklen Keller gegen die Angst vor der Ratte. Die verzweifelten neuheidnischen Lichterketten gegen die Weltnacht, die uns mit tödlicher Sicherheit verschlingen wird. Wer so glaubt, denkt und handelt, liegt falsch. Völlig falsch.

Jedenfalls aus der Sicht eines Christenmenschen. Wer nach der Devise lebt, die Dinge nicht so tragisch zu nehmen, wie sie nun einmal sind, und sich daher alle Jahre wieder mit dem unweihnachtlich Unvermeidlichen anfreundet, liegt falsch, weil der Stern der Weihnacht nicht am 7. Januar untergeht. Er weist uns vielmehr Weg durch das Jahr. Für Christen beginnt dieses Jahr nicht in der Silvesternacht, sondern am 1. Advent. Und wenn Christen ihr Christsein und die christliche Zeitrechnung wirklich ernstnehmen, dann folgt auf die Heilige Nacht des 24. Dezember nicht die Tristesse unheiliger Januarnächte. Dann steht ihnen an keinem Tag ihres Lebens die unweihnachtliche Nacht ihres Lebens bevor.

In die Morgendämmerung hineingehen

Ja, wir leben in der Dämmerung und im Zwielicht. In vielerlei Hinsicht. Und in einer nachchristlichen Welt von Jahr zu Jahr mehr. Aber keine Sorge. Allem Zweifel, allem Unglauben und allen Unkenrufen zum Trotz ist es nicht die Abenddämmerung, sondern die Morgendämmerung, in die wir hineingehen. Die Nacht ist vorgedrungen. Der Tag ist nicht mehr fern. Der Tag, der für Christen in der Heiligen Nacht beginnt.

Der schwache, in den heilloseren Nächten unseres Lebens oft kaum sichtbare Glanz dieser Heiligen Nacht allein hat die Kraft, vom Himmel her unsere glanzlose Zeit zu erhellen. Auch wenn Weihnachtsbaumleichen und zahllose Tode die traurigen Wegesränder unseres Lebens säumen: der Weg eines Christenmenschen kann auch nach Weihnachten nie und nimmer ein nachweihnachtlicher Weg sein. Gott sei Dank.

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Florian Meier am Mo, 13.01.2025 - 23:46 Link

Ergänzend zu diesen unterhaltsamen und doch etwas tiefgründigen Nachweihnachtsgedanken bleibt festzuhalten, dass der Plärrer neben Verkehrslärm und Brutalismusarchitektur auch den Blick gen Himmel weist: Mit dem Planetarium kann man sich selbst in grauen Stunden in strahlende Ferne Welten beamen. So steckt hinter mancher Nembercher Hässlichkeit doch ein kleines Paradies und unter manchem Schmuckkästchen tun sich historische Abgründe auf. Am Heimweg kam mir Kind mit Papa und abgeleertem Christbaum entgegen. Das sah mir nach einer fröhlichen Abfuhrabendpartie aus. Immerhin werden die Tage wieder länger und mit dem schoen leuchtenden Morgenstern kehrt auch schon der pfingstliche heilige Geist ein. Da werden die Täler der Fastenzeit doch gleich etwas flacher.