Ich halte zur Zeit eine Vorlesung über Martin Luthers Theologie. Beim Lesen seiner Texte und der Texte über sein Denken beschleicht mich derzeit immer öfter das Gefühl, dass es im deutschen Gegenwartsprotestantismus womöglich gar keine Lutheranerinnen und Lutheraner mehr gibt. Ich erkenne jedenfalls Luthers Theologie in vielen Lebensäußerungen meiner Kirche bei aller Liebe und beim besten Willen nicht wieder und vermag sie allenfalls in homöopathischen Dosen aufzufinden. Daher drängt sich mir gelegentlich die Frage auf, ob die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern wirklich noch eine lutherische Kirche ist. Vielleicht wäre es redlicher, das Adjektiv "lutherisch" aus der Selbstbezeichnung meiner Landeskirche zu streichen?

In einer Bierlaune unterbreitete ich einem Theologenfreund die Idee einer entsprechenden Eingabe an die Landessynode, deren theologischer Referent ich ja immerhin fast zehn Jahre lang war. "Wenn du dich endgültig unmöglich machen willst, dann mach das", sagte er. Aber er sagte auch etwas anderes: "Es wäre jedenfalls ein Anstoß zu einer sehr nötigen Debatte in unserer Kirche", sagte er.

Was bedeutet lutherisch heute?

Was ist eigentlich lutherisch? In einer Kolumne, deren kategorischer Impe­rativ lautet, nicht zu langweilen und kurz und knackig zu sein, ist diese Frage natürlich unmöglich zu beantworten. Vielleicht aber ja doch. Nicht nur, weil am 31. Oktober Reformationstag ist, sondern auch deshalb, weil die größte kommunikative Herausforderung für einen Theologen darin besteht, das Ent­scheidende dann, wenn es an der Zeit ist, so ein­fach wie möglich, aber nicht einfacher zu sagen.

An dieser Stelle schiebe ich eine kleine Zwischenbemerkung ein. Jeder Versuch, konfessionelle Identität zu definieren oder gar zu stärken, stößt gegenwärtig in der Regel auf Kopfschütteln, Abwinken und Augenverdrehen. Nach dem Motto: "All diese Konfessions- und Religionsstreitigkeiten sind doch von gestern! Dem interreligiösen Dialog gehört die Zukunft! Die dringlichste Herausforderung unserer Zeit besteht darin, dass wir Christen im Miteinander der Religionen unserer Weltverantwortung gerecht werden." Mag sein. Mag sein, dass konfessionelle Differenzen der Vergangenheit angehören. In der Tat begegne ich der Bemerkung "Bist a Lutherischer, gell? Derfst dich trotzdem herhockn!" allenfalls noch dort, wo in mancherlei Hinsicht die Zeit stehengeblieben ist: in den von mir vorzugsweise aufgesuchten Brauereiwirtschaften auf dem Gebiet des Erzbistums Bamberg.

Es geht mir allerdings gar nicht um konfessionelle Differenzen, geschweige denn um irgendetwas Antikatholisches. Ganz und gar nicht. Es geht mir vielmehr um die Differenz des lutherischen Geistes zum Geist meiner weltlich-allzuweltlichen, sich für das Maß aller Dinge haltenden und sich selbst maßlos ideologisch, wenn nicht sogar religiös überhöhenden Gegenwart. Und ich meine, dass man die seltene Spezies der Lutheranerinnen und Lutheraner heute wahrscheinlich am ehesten daran erkennt, ob sie einen Unterschied machen zu den blauäugigen, realitätsfremden, überforderungsanfälligen, nihilistischen und gottesvergessenen Menschen- und Weltbildern ihrer Zeit und ihrer Kirche. Und zwar nicht einen ewiggestrigen, sondern einen geistesgegenwärtigen Unterschied.

Religion als anderes Wort für Demokratie?

Ich komme jedenfalls immer mehr zu dem Ergebnis, "lutherisch" als Gegenbegriff und als Gegengesinnung zu fast allem zu verstehen, was mir aus vielerlei nichtkirchlichen und kirchlichen Kanälen als alternativlose moralische und gesellschaftspolitische Überzeugung eingeredet wird. Die Überzeugung, dass jeder seines Glückes und seiner Selbstwerdung Schmied ist, zum Beispiel. Oder die Überzeugung, dass es für eine Christin oder einen Christen vor allem darauf ankommt, ein guter Mensch zu sein oder ein besserer Mensch zu werden. Oder dass das Evangelium in ein Gesetz, also in eine sanktionsbewehrte Handlungsaufforderung verwandelt werden muss, um die Welt verändern und ihre Übel beseitigen zu können. Oder dass Religion nur ein anderes Wort für Demokratie und Gott nur ein anderes Wort für Menschlichkeit ist.

Zurück zu Luther. Jede dieser Überzeugungen hätte ihm die Zornesröte ins Gesicht ge­trieben. Den Star des Humanismus seiner Zeit, Erasmus von Rotterdam, bekämpfte er letztlich wegen eines einzigen Satzes aus dessen Schrift über den freien Willen. Der Satz lautet: "Der Mensch vermag alles, wenn Gottes Gnade ihm hilft; also können alle Werke des Menschen gut sein." Luthers Menschenbild war weit weniger optimistisch und daher viel kirchensystemsprengender als das pädagogisch-humanistische Menschenbild des niederländischen Hipsters. Und deshalb hätte Martin Luther sich im Jahr 2017 wahrscheinlich im Grabe umgedreht, wenn er mitansehen hätte müssen, wie eine schlanke Playmobilfigur zur Ikone und zum vielleicht einzigen Souvenir des Reformationsjubiläums wurde. Zur Ikone, die Luther darstellen sollte, aber eher dem Erasmus glich als ihm, dem fetten, polternden, selten diplomatischen, immer kompromisslosen Madensack.

Luther glaubte an Gott, nicht an den Menschen

Die lutherische Wahrheit ist, dass Luther nicht an den Menschen, sondern an Gott glaubte und dass aus Luthers Sicht allein mit Humanismus kein Staat und schon gar keine Kirche zu machen ist. Weil Luther den Menschen mitnichten für die Antwort auf alle Fragen des Glaubens hielt, war nicht der Mensch, sondern der Mensch vor Gott das Thema von Luthers Theologie. Der Mensch, der allein aus Gottes Erbarmen lebt. Der Mensch, den niemand außer Christus von seiner Ichichichichich­sucht und von der Illusion befreien kann, selber zum Christus werden zu müssen und zu können, um die Welt zu retten. Der Mensch, dem es vielleicht gelingen kann, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen, der aber allein durch Gott die frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt erfahren und allein durch diesen Gott erlöst werden kann. Und um Erlösung geht es im christlichen Glauben – jedenfalls dann, wenn er seinem lutherischen Namen Ehre machen will. Es geht im Glauben um Erlösung des in sich selbst und in seiner Selbstgerechtigkeit gefangenen, also gerade des seiner moralischen Stärke gewissen Menschen. Und es geht um die Kunst der Unterscheidung. Und zwar zwischen letzten und vorletzten Dingen. Zwischen den Dingen der Welt und dem Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist und die Herzen der Welt gerade deshalb höher schlagen lässt.

Ich lese zur Zeit das sehr empfehlenswerte Buch "Unter Heiden. Warum ich trotz­dem Christ bleibe". Sein Autor ist der – katholische – Münchner Journalist Tobias Haberl, der auch für die Süddeutsche Zeitung schreibt. In Haberls Buch stehen Sätze wie: "Ein gläubiger Mensch hat ein grundsätzlich anderes Ziel als ein ungläubiger. Er möchte nicht befriedigt, er möchte erlöst werden." Oder: "Der Mensch, der von Gott nichts wissen will, findet nicht, was er sucht. Die große Freiheit stellt sich nicht ein." Oder: "Die Kraft des Glaubens liegt gerade in der Differenz zum Zeitgeist. Der Glaube muss überfordern, um nicht banal zu werden." Eigentlich finde ich ja, dass Tobias Haberl nicht nur römisch-, sondern aufgrund seiner weltfremden Weltlichkeit auch lutherisch-katholisch ist. Er selbst würde allerdings sagen, dass ihm das wurscht ist, weil er vor allem ein ganz normaler Sünder ist, der an Gott glaubt.

Gott als rettendes Gegenüber

Aber genau das könnte der springende Punkt sein. Vielleicht kann man ungeachtet aller Konfessions- und Religionszugehörigkeiten Lutherische ziemlich einfach von Nichtlutherischen unterscheiden. Lutherische Exemplare des Homo sapiens sind bereit, sich als Sünder oder Sünderinnen zu verstehen, die an Gott als rettendes Gegenüber glauben und dem Menschen weniger zutrauen als Gott. Nichtlutherische Vertreterinnen und Vertreter der Spezies Homo sapiens glauben eher, dass Gott nur eine Metapher für die humanitäre Geisteskraft in uns ist, durch die wir irgendwann das Unmenschliche und das Ungute besiegen und die Welt ins Reich Gottes verwandeln. Oder sie glauben – wenn ihnen der Glaube an Gott und der Glaube an den Humanismus zu vollmundig ist – das, was Paulus in 1. Korinther 15,32 illusionslos scharfsichtig für die einzig echte Alternative zum christlichen Glauben hielt: "Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot."

Ich weiß nicht, ob das zu einfach und am Ende zu schubladenmäßig unfair gedacht ist. Ich hoffe nicht. Und ich weiß auch nicht, ob ich meine Bierlaunenidee der Eingabe an die Landessynode weiterverfolgen soll. Ich glaube, eher nicht. Ich belasse es lieber beim Denkanstoß dieser Kolumne.

Ist die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern eine lutherische Kirche? Ich will es entgegen meinem Naturell salomonisch sagen: Das muss gut lutherisch im Sinne des Priestertums aller Getauften jeder und jede für sich selbst entscheiden.

Kommentare

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Florian Meier am Di, 29.10.2024 - 16:59 Link

Ein guter Kommentar zur Reformation. Im Nachbarland heißt die Kirche übrigens Evangelische Kirche A. B. (Augsburger Bekenntnis), was ich besser finde. Nicht weil das traditionalistisch korrekter oder der Gottes vorstellung gerechter wird, sondern weil es den Glauben von der Person Luther, die neben starken Glaubenssätzen auch allerlei Menschenfeindliches hinterlassen hat. Und schließlich sagte er selbst: "Ihr glaubt nicht an den Luther". Lutherverehrung ob durch Hymnen oder Playmobil ist wie bei vielen deutschen Intellektuellen ein zweischneidiges Schwert, welches die Finsternis in jenen wie im Selbst nicht erhellt sondern verdunkelt. Das Bekenntnis zur eigenen Fehlbarkeit und Rettungsbeduerftigkeit und die Hoffnung, dass es plötzlich und unvorhersehbar geschehen kann, bleibt hingegen auch nach 500 Jahren vor allem eins - wahr