"Scheißwetter!"

Immer, wenn ich das in den letzten Wochen gesagt habe, spürte ich die Klauen des schlechten Gewissens in meinem Nacken. Nicht etwa wegen des fäkalsprachlichen Ausdrucks. Als Lutheraner bin ich in dieser Hinsicht schmerzfrei. Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich deshalb, weil das Wetter zum moralisch verminten Terrain geworden ist. Einst signalisierte der Smalltalk über das Wetter gutartige Kommunikationsbereitschaft. Inzwischen gilt es auf der Hut zu sein und gut zu überlegen, was man erwidert, wenn das Gegenüber vom Wetter zu reden beginnt.

Eigentlich gibt es ja nur noch moralische Diskurse über das Wetter. In fast allen Wetterberichten der letzten, sagen wir sieben Sommer fand eine Art gefühltes Jüngstes Gericht über den Lebensstil unserer biosphärenfeindlichen Zivilisation statt. Je mehr Sonnensymbole auf den Deutschland- und Europakarten zu sehen waren, desto mehr verdüsterten sich die besorgten Gesichter und Gemüter. "Schon wieder schönes Wetter! O nein!" Die Hitze wäre vielleicht noch auszuhalten. Das Wissen um das, was sie (also WIR, der Mensch) dem brennenden Planeten antut, nicht.

Der Traum vom sonnenbeschienenen Sommermärchen

Und deshalb muss man sich in diesen Tagen vorsehen, wenn man sich – etwa als schlechtwetterdepressionsgefährdetes feinfühliges Wesen mit Vitamin-D-Mangel – nach einer kleinen Hitze- oder wenigstens Sonnen- und Wärmewelle für die verbleibenden anderthalb Sommermonate sehnt, ehe das Schmuddelwetter diejenigen auf den grauen Boden der Tatsachen zurückholt, die es weder zu einer Fluchtimmo­bilie in Florida noch in Kalifornien oder am Gardasee gebracht haben. Spätestens mit diesem Satz dürfte jetzt die moralische Empörung einsetzen.

"Schämst du dich nicht, angesichts der Myriaden von Klimamigrierenden, die im globalen Norden Schutz vor den Folgen der Erderwärmung suchen, so etwas zu schreiben?"

Nein, ehrlich gesagt schäme ich mich nicht. Und ich habe auch keine Lust auf das Versteckspiel des Selbstbetrugs, das so viele praktizieren. Insgeheim verfluchen sie den Dauerregen und die Kälte, träumen von einem ungetrübten sonnenbeschienenen Sommermärchen (aus dem ja leider fußballerisch dann doch nichts wurde), bangen darum, dass ihr Urlaub nicht ins Wasser fällt oder sind erleichtert, dass eine sonnensichere Fernreise bevorsteht. Nach außen hin dagegen bekunden sie mit pflichtschuldigstem Augenaufschlag:

"Schlechtes Wetter! Wie schön! Endlich kann die Natur aufatmen! Ist es nicht herrlich, wie oft es in diesem Jahr regnet?"

Am irritierendsten finde ich dabei, dass vielen der Widerspruch gar nicht aufzufallen scheint. Womöglich deshalb, weil sie zwischen ihrer öffentlichen und ihrer privaten Persona und deren Äußerungen routiniert zu unterscheiden und smooth und alert zu navigieren wissen. So sagen und glauben sie in einer Hinsicht, was sich zu gehören scheint, was man also eben zu glauben und zu sagen hat, um seine Ruhe zu haben und vor Shitstorms verschont zu werden, während sie in anderer Hinsicht eben das glauben und leben, was ihnen Spaß macht und was ihrem persönlichen Lebensstil und ihren persönlichen Bedürfnissen am meisten dient.

Sonne und Wetter sind politisch geworden

Die Sonne ist zu einem Politikum geworden. Es gehört zum guten Ton der gesellschaftspolitisch Sensiblen, über das Wetter allenfalls in ethischer Hinsicht zu reden und eigentlich jede Wetterlage (auch das Scheißregenwetter dieses Sommers) für ein Indiz des Klimawandels zu halten. Selbst diejenigen, die auf die Idee kommen könnten, ein durchwachsenes Jahr wie 2024 als Zeichen anzusehen, dass es doch gar nicht so schlimm sei mit der Erderwärmung, müssten – so signalisieren es die erhobenen Zeigefinger (und sicherlich zu Recht) es besser wissen. Sie müssten wissen, dass Extremwetterlagen nur bestätigen, wie sehr sich das globale Klima dramatisch verändert und dass im übrigen auch das Jahr 2024 den Wärmerekord brechen wird. Mögen manche auch mittlerweile glauben, Statistiken und Wetterberichte würden wie weiland in Ceaușescus Rumänien gefälscht: Ich bin noch nicht so paranoid und klimawandelignorant, um zu ihnen zu gehören.

Natürlich ist die Sonne stärker denn je auch zu einem Gesundheitspolitikum geworden. "Es gibt keine gesunde Bräune", sagen nicht nur Beobachterinnen und Beobachter der politischen Rechten, sondern auch Dermatologen. Und es zeigt sich bereits in manchen gebildeten großstädtischen Milieus, dass die Schönheitsideale der Barockzeit wieder en vogue werden. Bewusstseinsprivilegierte Menschen beginnen ihre Blässe mit einem Hauch von selbstgerechter Verachtung entweder der tumben Bräunungsfetischisten aus den Metropolen oder der sonnen- und hirn­verbrannten Freiluftarbeiter aus der Provinz als Statussymbol vor sich herzutragen. Nach dem mehr oder weniger stillschweigenden Motto: "Wir sind die Guten. Ihr seid die Bösen. Oder die Doofen." Wahrscheinlich beides.

Dass es zu hedonistischen Trotzreaktionen auf diese Dämonisierung der Sonne kommt, verwundert nicht. "In einschlägigen Social-Media-Bubbles", so die Kulturjournalistin Hannah Lühmann unlängst in der "Welt", "wird Sonnenexposition als Teil eines Gesamtpakets aus fleischhaltiger Ernährung und Gewichtheben als Therapie zur Heilung der Krankheit der Moderne empfohlen. Diese Kreise gehen davon aus, dass der Verfall der westlichen Zivilisation maßgeblich mit dem Verlust einer ‚einfachen‘, ‚natürlichen‘ Lebensweise zu tun habe". Das ist – so wäre hinzuzufügen, exakt, nur anders auch das Credo der Bioachtsamen, die in einem Leben im Einklang mit der Natur den Ausgang aus den selbstzerstörerischen Teufelskreisen der technologischen Moderne sehen.

Sieg über die Sonne als Lösung?

Im Jahr 1913 wurde in Sankt Petersburg die erste futuristische Oper der Künstler Alexei Krutschonych, Welimir Chelebnikow, Michail Matjuschin und des Suprematisten Kasimir Malewitsch uraufgeführt. Sie trug den Titel "Sieg über die Son­ne" und wurde zu einem der größten Affronts der Theatergeschichte. Suprematistisch war die Oper deshalb, weil sie die Herrschaft der Kunst über die Natur und eigentlich über jede Konvention programmatisch und konsequenterweise zum Unverständnis und Verdruss des Publikums inszenierte. Zugleich war der "Sieg über die Sonne" revolutionär. Die Oper wurde zum avantgardistischen Vorschein des Sieges der Revolution über alle konterrevolutionären Mächte. Dass es den futuristischen Kraftmenschen in der Oper gelingt, die schlechthinnige Lebensspenderin selbst zu überwältigen und die Sonne in ein Haus aus Beton einzusperren (Tscher­nobyl lässt grüßen), mag man für wahnwitzig und größenwahnsinnig halten. Es zeigt aber, wozu große Transformationen und Transformateure ihrem Selbstverständnis nach imstande sind.

Ich frage mich allen Ernstes und zugleich ein wenig augenzwinkernd, ob der Sieg über die Sonne nicht tatsächlich die Lösung für das globale Klimaproblem wäre. Wenn der Sieg über die Erde und über ihre hartnäckig selbstzerstörerischen Mentalitäten nicht möglich ist, dann könnte man ja vielleicht die Erde in ein Haus aus sonnenabschirmendem Material einsperren. Beton ist dafür ungeeignet, fürchte ich. Aber dem erfindungsreichen Homo sapiens wird ziemlich sicher eine andere Technologie einfallen, um seine Haut zu retten.

Nur wären wir natürlich ohne die Sonne verloren. Dass der Kampf gegen sie besser nicht zu gewinnen ist, wissen nicht nur alle Sonnenanbeterinnen und Sonnenanbeter, sondern auch alle Fans erneuerbarer Energie. Alle astronomisch halbwegs Beschlagenen wissen es ohnehin. In der römischen Mythologie trug der Sonnengott nicht von ungefähr den Namen "Sol Invictus". Das heißt "Unbesiegbare Sonne". Ein durchaus passender Name. Denn wir werden sie nicht besiegen, die Sonne. Und bis unser Mutterstern von den Kernfusionsreaktoren in seinem Innersten besiegt wird, sich zum Roten Riesen aufbläht, die innersten vier Planeten des Sonnensystems verschlingt und in seinen Todeskampf eintritt, haben "wir" noch vier Milliarden Jahre Zeit.

Bis dahin könnten wir ja vielleicht nicht nur über biosphärenschonende Technologien und Lebensstilmodifikationen nachdenken, sondern auch überlegen, wie es uns am besten gelingt, den Sieg über unsere apokalyptische, moralische und solare Panik, über die Versuchung des Polarisierens, der extremen Lösungen und der erbarmungslosen Verurteilung Andersdenkender und Anderslebender davonzutragen, ohne dem Zynismus und dem Nihilismus das Feld zu überlassen.

Die Sonne scheint für alle

Womöglich hilft dabei ein Blick in die Bergpredigt. Im fünften Kapitel des Matt­häus­evangeliums sagt Jesus:

"Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: ‚Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte."

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen – bis auf ein paar gute Wünsche für diese liebe Sommerzeit, die Paul Gerhardt so schön besungen hat.

Genießen Sie die Sonne! Sie ist für uns Erdlinge das edelste aller Geschöpfe. Ohne sie wären wir verloren. Halten Sie halt gebührenden Abstand und kommen Sie der Sonne anders als Ikarus, Oppenheimer und Konsorten nicht zu nahe. Dafür gibt es Sonnencremes, Sonnenbrillen, Schatten und mehr oder weniger vorteilhafte Kopfbedeckungen. Freuen Sie sich über jeden warmen Sommertag! Seien Sie froh, dass die Flora in unseren Breiten grüner ist als in den letzten Jahren! Vor allem aber: Erholen Sie sich, wo auch immer Sie Ihre Ferien verbringen, unter blauestmöglichen Himmeln, vor allem aber unter dem Himmel Gottes!

Und keine Sorge. Am Ende wird es ein gutes Ende mit uns nehmen.

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