Es braucht nur einen Satz: "Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge."

Nur ein Satz, zu lesen in ein paar Sekunden. Ein paar Sekunden für das, was die Welt verändert.

Bei mir brauchte es mehr als ein paar Sekunden und mehr als nur einen Satz, in denen sich meine Welt verändert hat. Im Januar habe ich mein drittes Kind zur Welt gebracht. Wahrscheinlich ging die Geburt sogar schneller als bei Maria, schließlich war Jesus ihr erstes Kind.

In der Weihnachtsgeschichte steht nichts von Marias Schmerzen

Oder ist mit der sogenannten unbefleckten Empfängnis auch eine schnelle, schmerzlose und geräuschfreie Geburt verbunden? Ein staunendes Ah! und das Baby rutscht ins Stroh? Ich würde es ihr ja wünschen. In der Weihnachtsgeschichte ist nichts von ihren Schmerzen zu lesen. Nicht davon, dass sie schrie. Nicht davon, dass sie zitterte, Angst hatte, sterben wollte.

Es bleibt bei diesem einen Satz, der nur ein paar Sekunden dauert. Kein Blut, keine Flecken, nicht mal Tränen, auch nicht vor Glück und Liebe. So trocken wie das Stroh in der Krippe, so wird die Geschichte der Geburt Jesu hier erzählt. Man könnte es gefühllos nennen, aber ich finde, das stimmt nicht. Die Weihnachtsgeschichte malt ihre Gefühle eben mit zarten Farben. Als ob ihr Verfasser gewusst hätte, dass wir diese Worte immer und immer wieder hören werden. Bis sie von selbst Gestalt annehmen und zu einem Krippenspiel vor unseren Augen werden.

Maria kommt nicht zu Wort

In den kurzen Versen über die Geburt ihres Kindes kommt Maria nicht zu Wort. Ihre Worte kann man zwei Seiten vorher in der Bibel lesen, im Magnificat. Aber auch da geht es nur ganz kurz um sie selbst. Gott hat mich angesehen, klein wie ich bin, sagt sie. Dann lobt sie Gott. Macht ihn groß und herrlich, gerecht und barmherzig. Dann aber verstummt sie.

In der Geburtsgeschichte muss man ihre Gefühle dann zwischen den Zeilen lesen. Ihre Angst spiegelt sich in der Antwort des Engels: "Fürchtet Euch nicht!". Und dann - dann verschwindet Maria endgültig hinter der Geschichte ihres Kindes. Sie wird zu einer Mutter, die sich über ihr Kind wundert. Über seine Weisheit und die Gnade, die Gott auf ihn gelegt hat.

Evangelische Frömmigkeit feiert Maria nicht

Später wird sie zu der Mutter, die um ihr Kind weint. Dass Maria später von frommen Menschen auf der ganzen Welt als Heilige verehrt wird, als Gnadenbringerin im blauen Kleid - zu den biblischen Schriften passt das auf den ersten Blick nicht. In der evangelischen Frömmigkeit kommt Maria deshalb auch kaum vor: wir feiern weder Maria Empfängnis, noch Lichtmess, noch den Mai als Marienmonat.

Ich selbst bin weit davon entfernt, meine katholische Seite zu entdecken, daran ändert auch dieser Text nichts und auch nicht die dritte Geburt. Aber tatsächlich  wurde ich letztens gefragt, ob sich mein Glaube, meine Theologie, durch das erneute Mutter-Werden geändert hat. Und während ich noch etwas bockig (ich bin empfindlich, wenn es um Mutterbilder geht) "Nein, warum auch?" geantwortet habe, blitzte in meinem Kopf dieser Satz aus der Schöpfungserzählung auf:

"Ich will Dir viel Mühsal schaffen, wenn Du schwanger wirst; unter Mühen sollst Du Kinder gebären."

9 Monate Mühsal und eine Geburt unter Schmerzen - das ist die Strafe für den sogenannten Sündenfall (um dessen Bedeutung müssen wir uns auch noch irgendwann kümmern…). Eine Strafe, die ein für allemal über alle Frauen verhängt wird - und dann wird Gott Mensch, indem er als kleines Baby von einer Frau zur Welt gebracht wird?

Widersprüchlich – und göttlich

Zum ersten Mal in meinem Leben fällt mir auf, wie verrückt das ist. Wie widersprüchlich. Und wie göttlich. Die Gnade, das Licht, der Friede, der Himmel auf Erden - all das entsteht dort, wo es eigentlich wehtun soll. Wo Mühe und Schmerz sind, Angst, Blut und Verzweiflung. Da verändert sich alles.

Maria muss gar nichts sagen in der Geschichte. Es ist alles schon da. Menschen, die schon einmal ein Kind auf die Welt gebracht haben, wissen, dass man eben nicht alle Schmerzen vergisst, wenn das Baby dann endlich da ist. Die Erleichterung überflutet uns zwar, aber vergessen wird man diese Erfahrung der Geburt nie.

Manche Geburten sind traumatisch, manche leichter, aber alle verändern uns grundlegend. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren - oder sie behalten zu können. Das Ausgeliefert-sein an einen körperlichen Vorgang, der mit uns und ohne uns gleichzeitig passiert, das schreibt sich tief in unser Körpergedächtnis ein. Und bleibt und verändert uns, vielleicht sogar mehr als wir denken.

Gnade ist auch, nicht so bleiben zu müssen, wie ich bin

Normalerweise nimmt man 8 Wochen nach der Geburt an einem Rückbildungskurs teil. 8 Wochen dauert das Wochenbett und 8 Wochen dauert es von Heilig Abend bis Mariä Lichtmess - dem Tag, an dem der Christbaum endgültig aus den Kirchen und Wohnzimmern getragen wird. Marias Rückbildungskurs ist wahrscheinlich eher ein Neufindungskurs: Alles ist anders geworden, warum sollte sie so bleiben wie sie ist? Ich finde, das ist eine wichtige Erlaubnis: Wenn sich etwas in meinem Leben grundlegend ändert, kann ich mich auch ändern. Ich muss nicht so bleiben wie ich bin. Auch das ist Gnade.

Dass aus uns und mit uns etwas wird, das ist für mich eine Marienerfahrung. Ein Werden. Von der Magd, wie Luther sie nennt, zur Gottesgebärerin. Von der Niedrigkeit zum blauen Kleid. Und ja, auch vom Wundern zum Weinen, von der Krippe zum Kreuz. Es ist kein Zufall, dass Gott mit einer Geburt zur Welt kommt. Er oder sie hätte auch aus einem brennenden Dornbusch steigen können oder aus dem flüsternden Wind herabschweben - auch diese Bilder hat die Tora bereit gehalten. Aber es musste eine Geburt sein. Ein ganz neues Sein, das alles verändert.

Friede und Gnade werden auch da, wo es weh tut

Um das zu verstehen, muss man nicht selbst ein Kind zur Welt bringen. Den Schmerz der Veränderung, die Kraft des Kontrollverlusts, den schwindelnden Zweifel am Abgrund - das spüren Menschen mit und ohne Gebärmutter immer wieder im Leben. Eine Geburt vereint all diese Gefühle. Die Momente im Leben, in denen alles in Frage steht, sind meistens auch die, die alles verändern. Die Welt oder zumindest uns selbst.

Das heißt nicht, dass jeder Schmerz und jeder Verlust uns stärker macht und schon gar nicht, dass rückblickend alles mit einem Sinn versehen werden muss. Es heißt nur, dass Gnade, Licht, Friede und der Himmel auf Erden auch da werden können, wo es eigentlich noch weh tut. Da, wo Schmerzen und Mühsal über uns verhängt worden sind wie Gerichtsurteile, da wo Schuld und Schmerz pochen. Am selben Ort, an uns selbst nämlich, kommt der Frieden zur Welt. Bei Maria ist es Jesus. Bei uns vielleicht ein anderer Himmel auf Erden. Ein Marienmoment im blauen Kleid.