Morgen ist Karfreitag. Die Kirchen werden wieder voller sein als bei den normalen Gottesdiensten. Vielleicht auch deswegen, weil die Menschen hören wollen, wie der Krieg, das Leiden, die Leichen, die Verbrechen, die zur Zeit so nah kommen - wie all das mit Gott zusammenpasst. Vielleicht wollen sie eine Antwort auf diese Frage.

Gott steht ohnmächtig vor dem Leiden

Und die Pfarrerinnen und Pfarrer werden in ihren Predigten versuchen, diese Antworten zu finden. Und wahrscheinlich wird man in vielen Kirchen hören, dass die Menschen nicht allein waren, die vom Leben in den Tod gestürzt worden sind. Durch Gewehre, Bomben und Handgranaten. Gott war bei ihnen. Sie waren nicht allein. Gott war in Mariupol, in Bucha. Im Matsch, in den Kellern. Niedergesunken und machtlos. Gott, der genauso ohnmächtig vor dem Leiden steht, wie die Menschen selbst.

Aber ich frage mich mehr und mehr, wer diese Rede von Gott, der bei den Leidenden ist, eigentlich hält. Von den Kanzeln. In den Zeitungsartikeln. Es sind doch wir, die das sagen. Also die, die in Sicherheit sind. Im Warmen, trotz steigender Ölpreise. Aus der Distanz, die verzweifelt und durchaus auch mit-leidend versucht, zu verstehen, wie Gott so etwas zulassen kann.

Wir schicken Gott, weil wir es nicht ertragen, nicht tun zu können

Vielleicht ist dieses Gottesbild eines, das genau diese Distanz braucht. Wir schicken Gott gedanklich in die Luftschutzbunker und Kriegsgefangenenlager, weil wir es nicht ertragen, nichts dagegen tun zu können. Weil wir eben selbst so ohnmächtig sind. Deshalb reden wir vom ohnmächtigen Gott. Eigentlich, um unserer Ohnmacht eine Gestalt zu geben. Und so wird der Tod von Jesus am Kreuz zu einem Symbol für den geschundenen Gott, geschlagen, vergewaltigt und dem Tod ausgeliefert.

Aber was wäre, wenn der Tod Gottes und das Leben der Menschen sich nicht auf diese Weise nahe wären? Was wäre, wenn diese unglaubliche, schreiende, verzweifelte Einsamkeit Jesu im Garten Gethsemane dieselbe Einsamkeit wäre wie die, die Menschen erleben, wenn sie in Todesängsten stehen? Ich zögere, diese Zeilen zu schreiben.

Muss es nicht meine tiefste Glaubensüberzeugung sein, dass Gott den Menschen in seinem Leiden nicht allein lässt?

Ja und nein.

"Ich hab keine Angst vor Gott, sollte es ihn geben, hab ich Vorwürfe zu machen! Dort in Auschwitz war er nicht und in keinem Konzentrationslager!" Das sind die Worte von Eduard Kornfeld, der den Holocaust überlebt hat - und der an seinem jüdischen Glauben voller Zweifel festgehalten hat. Für Kornfeld war Gott nicht da - viele andere, die den Völkermord nicht überlebt haben, können wir nicht fragen. Auch nicht die, die jetzt gerade an Kriegsverbrechen sterben, sei es im Jemen oder in der Ukraine.

Jedes Leiden ist eine Frage nach Gott

Wir reden immer mit denen, die ihr Leben behalten haben - und es ist ihr gutes Recht, ihre eigenen Antworten auf die Frage nach Gott zu finden. Vielleicht ist das immer so: Jedes Leiden, jedes Kreuz ist eine eigene Frage nach Gott. Eine stille manchmal. Eine, die man kaum zu stellen wagt, weil sie so lächerlich klein und unbedeutsam erscheint gegenüber den "richtigen" schweren Leiden auf der Welt. Und jede laute, grelle Verzweiflung ist eine eigene Frage nach Gott.

Allen Fragen und allen Leiden räumt die biblische Erzählung drei Tage Zeit ein. Drei Tage für den Tod Gottes. Drei Tage um nach Luft zu ringen, um Fragen zu murmeln und zu schreien, um sich das Herz aus dem Körper reißen zu wollen, weil es so, so weh tut und nicht aufzuhören scheint. Doch es hört auf. Nach drei Nächten hört es auf. Der Tod Gottes hat ein Ende.

"Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."

In dem Moment, wo ich diese Worte aus dem Buch der Offenbarung am Grab vorlese, ist es jedes Mal, als würde mir eine große Last von den Schultern genommen. Das Erste ist vergangen. Es ist vorbei. Das gescheiterte, geliebte, verspielte und verrückte Leben ist vorbei. Es ist nicht mehr an uns, die Fragen, die es gestellt hat, zu beantworten. Gott wird das tun. Denn bei ihm ist das Leben.

Nach drei dunklen Nächten beginnt Gottes Leben. Mit unserem Tod, mit unserem Leiden beginnt es. Der leise Versuch, an so etwas wie die Auferstehung zu glauben, beginnt für mich am Grab. In dem Moment, wo ich keine Antworten mehr suche, keine Deutungen, keine Erklärungen.

Aufhören nach Antworten zu suchen

Vielleicht gelingt uns das ja irgendwann auch an Karfreitag. Dass wir aufhören, nach Antworten zu suchen, wenn doch die Fragen erstmal ihren Platz brauchen. Das Vermissen und die Lücken unseres Lebens. Vielleicht tröstet es so manchen, dass sie Gott an ihrer Seite wissen, wenn sie alleine sind. Vielleicht aber tröstet es manche auch, dass sie versuchen, so sehr sie können, an das neue Leben Gottes zu glauben, das dem Tod irgendwann ein Ende bereiten wird.

Ist das eine Flucht in die Auferstehung? Ja, wahrscheinlich. Aber wohin wäre es besser zu fliehen als in ein Leben in Gottes Ewigkeit? Es ist nämlich eigentlich keine Flucht: Es ist ein Vorausgehen. Ein Glauben und Hoffen auf Vorsprung. Auf das Licht und das Leben zu. Man schmälert das Leid nicht, indem man auf Gottes Macht, sogar auf seine Allmacht hofft. Es ist tröstlich, darauf zu hoffen.

Gott bringt beides in sich zusammen

Aber was ist mit dieser irritierenden Gleichzeitigkeit von Krieg und Normalität, die viele Menschen angesichts der letzten Wochen spüren? Ich glaube, so wie unser Leben beides gleichzeitig aushalten muss, bringt auch Gott beides in sich zusammen: Das Leichte und Helle in unserem Leben ist genauso von Gott durchzogen wie das Dunkle und Kalte. Und vielleicht schulden wir dem Leben deshalb tatsächlich das Leuchten in unseren Augen, wie es in einem Lied heißt. So wie das Dunkle im Leben der anderen uns Tränen, Schmerzen und Hilflosigkeit abringt.

Gottes Lebendigkeit und Gottes Tod, unsere Leichtigkeit und unser Schmerz - es lässt sich nicht auseinanderreißen. Und vielleicht auch nicht vollends verstehen. Nur leben.

Wir wollen so dringend verstehen, wie Gott "das alles" zulassen kann. Und warum er am Kreuz gestorben ist. Die Predigt vom mitleidenden und ohnmächtigen Gott ist da nicht die einzige Antwort. Es ist auch eine Antwort, dass Gott das Leben ist. Nicht nur geschunden und verletzt, sondern die Kraft, die Wärme und Kraft, Zärtlichkeit und Hingabe in sich vereint - weil sie dem Tod nicht erlegen ist.

Mit dem Karfreitag beginnen drei dunkle Nächte. Ich will nicht vergessen, dass sie an Ostern enden.