"Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn". Mit diesem Satz beginnt ein zeitgenössischer Roman: "Nichts, was man fürchten muss”. Über gut 300 Seiten eine sehr persönliche Auseinandersetzung des Autors Julian Barnes mit dem Tod. Mit dem Leben, mit Erinnerung, mit dem was bleibt, ja und mit Gott. Flapsig und tröstlich, ironisch und ernsthaft. Sehr britisch. Seit seiner Jugend treibt ihn die Angst vor dem Tod um. Immer wieder umkreist er das Thema in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Hoffnungslosigkeit. Und sucht nach Antworten bei Schriftstellern und Komponisten.

Denn seine Familie ist für existenzielle Fragen nicht zu haben. "Was soll eigentlich dieses ganze Tamtam um den Tod?" fragt die Mutter. In dieser Familie ist es Tradition, aus trivialen Gründen, also aus Nichtigkeiten die Religion aufzugeben. Doch er bleibt dabei:  "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn". Sein Bruder, Professor der Philosophie, bezeichnet den Satz umgehend als "sentimentalen Quatsch”. Er aber vermisst etwas. Nicht einen Glauben, den auch er nie besessen hat. Er vermisst Gott, das, worauf das Leben und der Glaube zielt.

Mir ist dieser existentielle Mangel nicht fremd. Ich kann mit dem Psalm 23 beten "Der Herr ist meine Hirte, mir wird nichts mangeln" und im gleichen Atemzug sagen: ich weiß, wie es sich anfühlt, in dieser Welt  zu leben und Gott doch zu vermissen. Ich sage es anders als Julian Barnes, ich sage als gläubige Christin: "Ich glaube an Gott, und vermisse ihn". Am liebsten sage ich es in weiblicher Form, um Gott nicht zu fixieren auf das Männliche. "Ich glaube an die Ewige und vermisse sie".

Paradox, widersprüchlich, aber wahr. Ich bin mit Gott nicht fertig, ich werde nicht satt und zufrieden sein und ich weiß, das wird so bleiben, solange ich lebe. So geht es mir auch mit allen Menschen, die ich liebe, so geht es mir mit allen Dingen, die mir lieb und teuer sind. Da ist und bleibt eine Unruhe des Herzens, eine Sehnsucht nach Tiefe und Echtheit und Wahrhaftigkeit. Eine Sehnsucht nach Nähe. Und vielleicht kann ich sie nur empfinden, weil ich schon erfahren habe: es ist möglich, Erfüllung zu erfahren. Wenigsten augenblicksweise, einen Moment lang. Und dann ist der Mangel wieder groß, das Vermissen und Sehnen wieder da. Ich bin noch nicht am Ziel. Dies ist und war noch nicht die Vollendung.

Der existentielle Mangel in der Geschichte des Elia

Die biblischen Geschichten erzählen von Erfüllung. Eindringlicher aber  erzählen sie von diesem Mangel, von Menschen, die Gott vermissen und wie Gott sich zeigt, sich offenbart – immer neu, immer anders. In jedem Jahr neu, auf jeder Lebensstufe.

So lese ich die Geschichte des Propheten Elia. Er trägt Gott Jahwe in seinem Namen und wird ihn doch aufs Bitterste vermissen.

Es ist eine Dreiecksgeschichte: hier Elia, da Ahab, der König des Nordreichs Israel und da seine schöne Frau Isebel. Diese Geschichte hat alles zu bieten, was uns bis vor kurzem noch dazu veranlasst hätte, sie in die Vergangenheit verbannen zu können, in ein Damals, als die Menschen noch nicht so weit waren, wie wir heute. Als sie noch töteten im Namen der Religion. Auch Christen. Heute sind wir wieder mittendrin. Und fragen "ist Religion per se gefährlich? Ist Religion eine gewalttätige Sache oder macht der Mensch sie dazu?"

Elia kommt als politischer Prophet. Er kommt als ein Kämpfer gegen den Niedergang von Recht und Gerechtigkeit, gegen Korruption, Gier, gegen die Anmaßung der Herrschenden. Die Dürre im Land zeigt die ganze Verwahrlosung…da wächst nichts mehr, was Leib und Seele nähren könnte – Mangelwirtschaft. Auch die Staatsreligion ist nur Fassade. Sie trägt nicht, die Lösung, die die schöne Isebel anbietet mit dem Baalskult ist eine vorgestrige. Das alles entlarvt Elia - das Königshaus und seine Machtspiele. Doch dann diskreditiert er seinen selbstlosen Kampf um Gott und sein Volk. Er verfällt der Rache, er verfällt dem Blutrausch. Elia tötet 400 Baalspriester, so wie Isebel zuvor die Propheten Israels hat töten lassen.  Kompromisslos, rauschhaft. Staatsfeind Nr. 1. Ein gesuchter Gotteskrieger.

Ahab erzählte Isebel alles, was Elija getan hatte, alles, auch wie er alle Prophetinnen und Propheten mit dem Schwert getötet hatte. Da schickte Isebel einen Boten zu Elija: "So sollen mir die Gottheiten tun und so sollen sie hinzufügen, ja, morgen um diese Zeit mache ich dein Leben dem Leben eines von ihnen gleich." Da bekam Elija es mit der Angst zu tun. Er machte sich auf und lief um sein Leben. So kam er nach Beërscheba in Juda; dort ließ er seinen Gehilfen zurück. Er selbst ging einen Tagesmarsch weit in die Wüste. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wollte nur noch sterben. Er sagte: "Es ist nun genug, Ewige, nimm mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren!" Er legte sich nieder und schlief unter einem Ginsterstrauch ein. Doch plötzlich berührte ihn ein Engel: "Steh auf, iss!" Da blickte er auf, und wirklich, neben seinem Kopf lag auf glühenden Steinen gebackenes Brot, dazu ein Krug Wasser. Er aß und trank, drehte sich um und legte sich wieder hin. Da kam der Engel der Ewigen zum zweiten Mal und berührte ihn: "Steh auf, iss, denn der Weg, der vor dir liegt, ist weit!"

Wir könnten nun fortfahren über Elia zu reden als Besserwissende. So was tut man nicht. Gott braucht keine Menschen, die ihn verteidigen, indem sie andere abschlachten. Das ist eine kostbare Erkenntnis, erkauft mit viel Blutvergießen, durch Jesus Christus erlitten am Kreuz. Es ist das Kostbarste, was wir der Welt zu geben haben. Ja, wir wissen es besser als Elia und alle die Gotteskrieger, die im Blutrausch versinken und so viele mit sich in den Tod reißen. Spannend ist und bleibt, wie Elia sich entwickelt und verändert. Auf welchen Weg der Erkenntnis er geführt wird.  Und dabei sind wir ihm in nichts voraus.

Und er stand auf, aß und trank und ging in der Kraft dieser Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Gottesberg, dem Horeb. (BigS, 1 Kön 19, 1-8)

Wir hören von der mythischen Zeit von 40 Tagen, von der die Bibel immer wieder  erzählt. 40 Tage. Ein äußerer Zeitrahmen für etwas, was im Inneren von Menschen stattfinden soll, wenn sie sich auf etwas ganz  Neues einstellen - wenn sich ihr Horizont erweitern, eine neue Tür in ihrem Bewusstsein öffnen soll. So lang ist Elia unterwegs, geführt auf einen Weg, den er sich nicht selbst aussucht. Um solche Wege macht auch der glühendste und überzeugteste Gottesanhänger am liebsten einen Bogen.

Elia – der Prototyp für Burnout

Am Beginn dieses Weges sieht Elia, wie es um ihn steht und bricht förmlich zusammen. Der Aufräumer, der Selbstgewisse kippt um. Es ist genug, ich kann nicht mehr. Wörtlich "er verlangte von seiner Seele zu sterben". Wie viele andere habe ich bisher in Elia den Prototyp des Menschen gesehen, der an Erschöpfungsdepression leidet. Burnout. Diese alte Geschichte hat eine Sprache und Bilder für eine Krankheit, die erst seit kurzem als Krankheit anerkannt wird. Was in einem Menschen vor sich geht, der nicht mehr will und nicht mehr kann, erzählt sie eindringlich.  Und was für eine unsagbar große Last das ist. Der Engel, der so klar und nüchtern wie nur möglich sich ihm zuwendet: Iss was. Trink was. Steh auf, geh weiter – der Engel zeigt, was ein Mensch braucht, wenn er all dessen ermangelt, was das Leben lebenswert macht. Zuwendung auf der konkretesten Ebene. Wiederholte Zuwendung. Und Ruhe. Burnout – ausgebrannt, auch dafür hat Elia uns die Augen geöffnet.

Elia – der ernüchterte Mensch

Heute berührt er mich mit einem anderen Satz, den er ausspricht: "Ich bin nicht besser als meine Vorfahren". Auch das könnte der Satz eines psychisch kranken Menschen sein. So ähnlich habe ich das auch schon mal gehört von jemanden, der an Depressionen leidet. Ich höre hier noch etwas anderes. Hier spricht der ernüchterte Mensch. So beschreibt der Philosoph Romano Guardini in seinem Buch "Lebensalter" den Menschen in meinem Alter.

Man sieht sich selbst ungeschönt, man kennt seine eigenen Spielchen, man kennt seine Grenzen. Illusionen vergehen, Ernüchterung. Und man stellt sich den unangenehmen Fragen: ich gehöre zu einer Generation, die alle  Chancen hat, so viel Lebensmöglichkeiten, wie es noch nie zuvor gegeben hat auf diesem Planeten. Als wir jung waren, wollten wir es besser machen als unsere Eltern und als unsere Großeltern, die noch Kriege führten. Ist es uns gelungen? Plastikmüll. Kinderarmut auch in unserem Land. Millionenfacher Missbrauch von Kindern. Der Ungeist des Rassismus. Waffenhandel, auf dem ein Teil unseres Reichtums aufbaut. Ich kann ja nicht einmal behaupten, davon hätte ich nichts gewusst.

Uns hat die liebe Erde doch so viel mitgegeben! Dass diese Welt nie ende, nur dafür lasst uns leben!

Es ist ein heißer Sommernachmittag vor gut fünf Jahren. In den Nachtrichten höre ich, dass der Krieg in Gaza nun auch ausgebrochen ist, auf der Krim hat er schon begonnen. Ich stehe im Wohnzimmer am Radio und etwas zerbricht in mir. Mir wird schlagartig bewusst, ich werde nie eine Welt in Frieden erleben, solange ich lebe. Man kann mich für naiv halten, dass ich das überhaupt gehofft habe, nicht nur als Jugendliche, sondern auch noch als erwachsene Frau. Vielleicht bin ich es ja. Vielleicht bin ich auch mit meinen damals 51 Jahren immer noch nicht in der Lage, Grausamkeiten, Kriegsverbrechen, Terroranschläge ohne großes Staunen und Entsetzen hinzunehmen. Ich werde mich immer wieder fragen, wie ist das nur möglich?

Die amerikanische Publizistin Susan Sontag, die sich mit Krieg und Fotografie intensiv auseinandergesetzt hat, meinte, ab einem gewissen Alter hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld und vor allem nicht auf Vergesslichkeit.

Der ernüchterte Mensch weiß doch, wozu Menschen fähig sind. Ich kann alles erfahren darüber, wenn ich mutig bleibe und genau hinschaue. An diesem Mut fehlt es mir nicht. Doch mein Entsetzen wird nicht abnehmen. Ich habe eher den Eindruck, es wird größer, je älter ich werde. Wie kostbar ist dieses Leben und wie schwer bisweilen, ein Mensch zu sein, der in Frieden lebt mit sich und den anderen. Immer wieder möchte ich mir die Augen und die Ohren zuhalten, weil ich es nicht mehr ertrage, ich habe so genug von diesen Menschen- und Seelenhändlern, von Kriegen, von Parolen, von Großmannssucht. Und so könnte ich fortfahren in Selbstbezichtigungen, in Zornausbrüchen und dabei immer mehr versinken im Selbstmitleid, im Abscheu und im Hass auf diese Welt, mich selbst eingeschlossen.

Die dunkle Nacht der Seele

Das tut Elia. Isoliert von allen anderen, abgeschnitten von seinem Volk. Um sich kreisend, immer tiefer fallend. Am Berg Horeb geht seine Geschichte weiter:

Dort betrat Elia eine Höhle und übernachtete darin. Da erging das Wort der Ewigen an ihn; sie sagt zu ihm: "Was machst du hier, Elija?" Er sagte: "Ich bin wirklich eifrig für die Ewige … eingetreten, denn die Kinder Israels haben deinen Bund verlassen, deine Altäre haben sie eingerissen und deine Prophetinnen und Propheten mit dem Schwert getötet. Ich allein bin übrig geblieben – nur ich – und nun versuchen sie, auch mein Leben zu nehmen." Und sie sagte: "Geh hinaus und stell dich auf den Berg vor das Angesicht der Ewigen, denn die Ewige wird vorüberziehen!" Und es kam ein großer und starker Wind im Angesicht der Ewigen auf, der Berge abriss und Felsen zerschmetterte – doch im Wind war die Ewige nicht. Und dem Wind folgte ein Beben – doch im Beben war die Ewige nicht. Und dem Beben folgte Feuer – doch im Feuer war die Ewige nicht. (BigS, 1 Kön 19, 9-12)

Man sieht ihn in der Höhle sitzen, Elia, der sich einen anderen Gott wünscht und sich ausdenkt, was er mit den Menschen gerne tun würde. Mit diesem verlotterten Haufen, dem man einmal wirklich zeigen müsste, wo der Hammer hängt. Aber das kann Elia nicht mehr. Er hat es einmal getan und wird es nicht wiederholen. Aber Gott müsste es tun. Und wie er so dasitzt und sich ausdenkt, was Gott tun müsste, hört er draußen einen Sturm aufbrausen, der das ganze Menschengesocks wegfegt… Und wie er so dasitzt fühlt er, dass in seiner Höhle die Wände zittern. Ein Erdbeben setzt ein. Ja, so wäre das richtig. Alles stürzt ein! Und wie er so dasitzt, sieht er sie alle in der Hölle schmoren, im Feuer verglühen. Ja, so wäre es richtig, das haben sie alle verdient. (so Jörg Zink in einer Predigt am Kirchentag 2004)

Die dunkle Nacht der Seele - so beschreiben die Mystiker in poetischer Sprache diesen Zustand. Die Menschen, die Gott ins Licht gerufen hat, die Gesegneten, die Gottes Verheißungen nicht nur nachplappern sondern wirklich ersehnen. Die geraten in solche Nächte. Und müssen nun dieses Licht dort finden, wo sie nur noch dunkel sehen.  Dort, wo sie Gott vermissen. Und so nimmt die Geschichte eine Wendung, die nur Gott ihr geben kann. Sie wird eine Offenbarungsgeschichte. Gott zeigt sich.

Die Stimme der tiefen Stille

"Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer- qol demama daqqa, "eine Stimme der tiefen Stille" Windstille. Schweigen und darin eine leise Stimme… eine Stimme verschwebenden Schweigens" (Martin Buber, 1 Kön 19, 11-12).

Gott eignet sich nicht für Machtdemonstrationen, wie ein Mensch sie ersehnt. Alles Menschliche kommt hier an seine Grenze. Ja, schon seitdem er unterm Ginster Schatten gesucht hat, ist Elia am Ende mit seinem Latein. Der Engel führt Regie und Gott selbst treibt ihm die Hirngespinste aus. Nicht Sturm, nicht Feuer, nicht Erdbeben. Alle Bilder sind hier zerschlagen. Der größte Mangel, der denkbar ist. Das Nichts. Und zugleich der Schoß aller Dinge.

Und als Elija dieses hörte, da verhüllte er mit seinem Mantel sein Gesicht, ging hinaus und stellte sich in den Eingang der Höhle. Da sagte eine Stimme zu ihm: "Was machst du hier, Elija?"  (1 Kön 19, 13)

Elia schlägt den Mantel um seine Seele, um für immer bei sich zu behalten, was er in dieser Höhle erfahren hat. Mir wird nichts mangeln.

Ich glaube an Gott und vermisse sie, die Geistkraft, das Licht, die Quelle. Im Dunkel ist sie schwer zu finden. Doch dort brauche ich sie wirklich. Und wenn sie mich findet, die leise Stimme, die Stimme der tiefen Stille, die qol demmama daqqa, kann ich mein begrenztes, mein fehlerhaftes Leben annehmen. "Ich bin nicht besser, als meine Vorfahren!" Es ist auch ein Satz, der alle Überheblichkeit und Besserwisserei hinter sich lässt. Ein Satz, der gnädig stimmt. Aus allem Grübeln über das, was war, reißt mich Gott heraus: Was machst du hier? Jetzt ist es Zeit zu hören und zu handeln.

Elia wird an die Nahtstelle zweier Formen von Religion geführt, liebe Hörerinnen und Hörer. Die eine geht so: Man glaubt, um es anderen zu zeigen, man kann Gott benutzen: zur Selbstregulierung, zur Beruhigung, zur Machtdemonstration. Doch das ist im Grunde immer ein Leben ohne Gott, ein Lebensentwurf der Selbstrechtfertigung. Religion als Opium – Betäubung, Unterhaltung, letztlich eine Ego-Show mit Neigung zur Gewalt.

Mit Elia werden wir eingeweiht in eine andere Form von Religion. Eine andere Form von Leben überhaupt. Ein Leben aus Gott. Mit Elia lernen wir, Empfangende zu sein. Sehnsüchtig zu bleiben zusammen mit Menschen anderer Religionen und Konfessionen. Und am Ende zu sagen: "Mir wird nichts mangeln".  Leiden gehört  zum Leben.  Das kann der ernüchterte Mensch noch mehr annehmen. Es macht sensibel für das Leiden anderer und für die qol demama daqqa – die Stimme der tiefen Stille.

Evangelische Morgenfeier vom 12.01.2020 mit Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen, München. Thema: Gott vermissen